
+) Flyer 23. Köthener Bachfesttage vom 1. bis 5. September 2010
Am Tag danach bin ich noch ganz benommen. Soviel „Meer“ muss erst einmal verdaut werden.
Mittwoch 1.9.2010 – Eröffnungskonzert St. Jakob „h-moll-Messe“
Los ging`s mit der h-moll-Messe in der toll renovierten Kirche St. Jakob in Köthen. Leitung: Philippe Herrweghe mit seinem Collegium Vocale Gent. Ich hatte von Anfang an leichte Bauchschmerzen. Gardiners Aufführung der h-moll-Messe in Leipzig war noch zu präsent und hatte mich regelrecht aus den Angeln gehoben. Trotzdem wollte ich Herreweghe unbedingt erleben. Ich habe ihn erlebt – das ist aber auch alles, was ich dazu schreiben möchte. Keine Gänsehauterlebnisse – kein Kommentar.
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Eine Rezension der h-moll_Messe von Herreweghe kann h i e r von der MZ aufgerufen werden…!!
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+) Barocke Dame und Herr empfingen die Besucher zu den 23. Köthener Bachfesttagen 2010 in St. Agnus.
Köthen war aufs Bachfest super vorbereitet. In allen Kirchen zu unterschiedlichen Zeiten halbstündige Orgelkonzerte, Kurzandachten, Vorträge und dann eben die ganz großen Highlights:
Donnerstag 2.9.2010 – Bachsaal:
Orchesterkonzert I; English Baroque Soloists, Sir John Eliot Gardiner.
Seit Februar war dieses Konzert für den Bachsaal ausverkauft. Zwei Stunden sind Karl-Heinz und ich um die Vorverkaufskasse geschlichen (Einheimische nennen das Kartenstrich) – dann hatte ich mein Ticket für die beiden Ouvertüren (1067, 1066) und das Konzert für Oboe, Violine und Orchester. Die EBS waren in bester Verfassung, Gardiner voller Elan und Schwung und es viel mir schwer, ruhig auf meinem Sitz zu bleiben; am Liebsten hätte ich getanzt.

+) Bachsaal Bachfesttage Köthen 2010
Freitag 3.9.2010 – St. Agnus: „Schemelli Lieder“
Am Freitag waren die Schemelli Lieder dran. Sankt Agnus war voll besetzt; im Altarraum lediglich ein Orgelpositiv und ein Cembalo. Ton Koopman begleitete Klaus Mertens (Bass-Bariton). Eine lupenreine Artikulation, eine dem Kirchenraum vollkommen angepasste ausdrucksvolle Stimme, eine große Bescheidenheit, keine Allüren – er stand nur einfach da und sang sich in die Herzen seiner Zuhörer/innen. Bei „Liebster Herr Jesu, wo bleibst du so lange (BWV 484)“ war`s um meine Fassung geschehen. „Komm doch, Herr Jesu, wo bleibst Du solange? Komm doch, mir wird auf Erden so bange“ hat Klaus Mertens mit soviel Innigkeit, Sehnsucht und Hingabe interpretiert, dass für mich „ein Stück andere Welt“ spürbar und sichtbar wurde. Selbst bei der Zugabe „Bist Du bei mir“ – Notenbüchlein A. M. Bach, gab es bei vielen noch Tränen. Es war ergreifend; überirdisch schön

+) St. Agnus in Köthen Bachfest 2010
An dieser Stelle hätte für mich das Bachfest zu Ende sein können. Aber es kamen noch zwei dicke Highlights – zwar ganz anderer Art – aber jedes auf seine Weise faszinierend.
Freitag 3.9.2010 – Bachsaal: Kunst der Fuge (BWV 1080) mit der Akademie für Alte Musik Berlin als Konzertinstallation.
„Auf der Bühne vom Bachsaal ist dem jeweiligen Klangkörper ein eigener Standort zugeordnet. Dadurch wird die Bühne zu einer klanglich bespielten Fläche, die Musik wird inszeniert, denn jede Gruppe hat eine eigene, fokussierende Beleuchtung. Das Licht lenkt jeweils die Aufmerksamkeit des Zuhörers von einer Gruppe zu anderen; das Klangsystem wird sichtbar. In dieser verdichteten Atmosphäre gelenkter Aufmerksamkeit entfaltet sich die faszinierende Sogkraft des Fugensystems.“ Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie werden die Berliner das plötzliche, unerwartete Ende der „Kunst der Fuge“ darstellen. Es kam, wie ich es mir vorgestellt hatte: die Bratsche spielte den letzten Takt allein, dann wurde es stockdunkel. Im Saal war totenstille – ich habe lange gebraucht um wieder aufzutauchen.
Freitag 3.9.2010 – St. Jakob: „Orchesterkonzert II“ EBS – Sir Gardiner

+) St. Jakob Bachfesttage Köthen 2010
Abends kam mit „Orchesterkonzert II“ mit den English Baroque Soloists und dem Sir das glatte Gegenteil zum Nachmittag. Ein ausgelassenes Orchester, ein überschäumender Sir und eine fantastische Sopranistin (Lenneke Ruiten) boten u.a. die Hochzeitskantate „Weichet nur, betrübte Schatten BWV 202“.

+) St. Jakob Köthen-Bachfest 2010 Applaus Kantate BWV 202 Links: Lenneke Ruiten - Sopran; Mitte: Sir J.E. Gardiner, rechts: Oboe - Prof. Michael Niesemann

+) St. Jakob Bachfest Köthen 2010 Virtouse Trompeten: Neil Brough; Robert Vanryne; Michael Harrison; in den Suiten-Ouvertüren BWV 1068 + 1069
Voller Charme und Witz, voller Freude und Ausgelassenheit wurde musiziert und gesungen. Für uns auf den harten Bänken gab`s kein Halten mehr. Wir wären am Liebsten die ganze Nacht geblieben, um diese sagenhafte Hochzeit richtig zu feiern. Traumhaft schön war auch Prof. Michael Niesemann an seiner Oboe – wie alles an diesem Abend.

+) St. Jakob Köthen Bachfest 2010 Pausenapplaus nach der Bach Ouvertüre BWV 1066 + 1067

+) St. Jakob Bachfest 2010 Köthen - Sir J.E. Gardiner schmunzelnd über den riesigen Applaus als Gladiator von EBS
Samstag 4.9.2010 – Spiegelsaal – Violinkonzert-Partitien, Viktoria Mullova
Beeindruckt hat mich natürlich auch das Violinkonzert mit Viktoria Mullova. Diese Partiten und Sonaten sind einfach Meisterwerke der besonderen Art und sind von einer Meisterin dargeboten worden.
+) Spiegelsaal im Schloss Köthen, Viktoria Mullova „Violine solo“ mit Bach-Partitien: BWV 1006 + 1004 + 1001

+) St. Agnus, Köthen, Cantus Cölln ( J.S. Bach gehörte zu dieser Kirchengemeinde)
St. Agnus: Cantus Cölln Kantaten und Messe mit Cantus Cölln und Konrad Junghänel
haben mich nicht vom Hocker gerissen – dazu stand ich wahrscheinlich noch viel zu sehr unter dem Eindruck der Abende mit dem Sir.
Sonntag 5.9.2010 – St. Jakob: „Köthener Trauermusik“
Der Abschluss war für uns am Sonntag morgen die „Köthener Trauermusik“ in der Jakobskirche. Der Köthener Bachchor und die Lautten Compagney Berlin haben sich an diese rekonstruierte Fassung gewagt und eine glänzende Aufführung hingelegt. Wir waren wirklich beeindruckt. Der Kommentar meines Mannes beim Verlassen der Kirche „warum haben die nicht gleich die Matthäus-Passion gespielt“ traf ins Schwarze. Aber über die Rekonstrukionsgeschichte schreib` ich jetzt nichts mehr – ich zitiere zum Schluss Alexander Ferdinand Grychtolik: „musikalische Rekonstruktionen appellieren vielmehr an die wesensbestimmenden Werte von Musik; an den ästhetischen Wert und den Kunstwert“.

+) St.Agnus Köthen Bachfest 2010 Junghänel mit Cantus Cölln; BWV 102 + 147 + 234
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Herzlichen Gruss
Iris
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2 Rezensionen der mz als PDF-Link nachstehend
Mitteldeutsche Zeitung Bachfest 2010 Köthen
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+) Bilderrechte: Volker Hege
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Liebe Iris,
du hast wieder so hervorragend deine Schilderungen zum 23. Köthener Bachfest 2010 hier beschrieben, so dass ich unwillkürlich sofort mit eingebunden wurde. Das Highlight für uns war Gardiner und EBS am 3.9.2010 um 19:30 Uhr in St. Jakob die Suiten oder auch genannt Ouvertüren von J.S. Bach. Einfach köstlich die Hochzeitskantate, „Weichet nur, betrübte Schatten BWV 202“.
Was hier der Solo-Oboist Michael Niesemann als Begleitung spielte, war einfach hinreissend und perfekt, die Hochzeitsfreude sprang auf den Besucher über, tänzelnd und innig dieser Part, man konnte nicht genug davon bekommen. Die Solo-Violine als Gegenstück dazu, als die Oboe Pause hatte, war durch Kati Debretzeni einfach absolute Klasse. Und wer machte diesen Höhepunkt des Konzertes nun als Ganzes mundgerecht, die holländische Sopranistin „Lenneke Ruiten“ – ein Juwel und Glücksfall für diesen Abend. Das Können und ihr Singen gelang mit den vorgenannten Beteiligten zu einem wahren Kunstgenuss par excellence. Dem Sir ist es zu verdanken, dass wir dieses herrliche Werk zu Gehör gebracht bekamen.
Aber, die Suiten-Ouvertüren BWV 1068 + 1069 waren ebenfalls ein Volltreffer, das Trompeten-Ensemble mit Neil Brough; Robert Vanryne und Michael Harrison besetzt, ergab eine überschäumende Spielfreude der Einmaligkeit. Diese Gardiner-Trompeter habe ich in mein Herz geschlossen, sie sind wahre Könner und begeisterten mich schon in der h-moll-Messe in Leipzig. Dazu die glänzend disponierten Streicher ergaben einen weiteren Meilenstein in der Gardiner-EBS-Ära. Dieses beschwingte Spiel von EBS ist einmalig und unschlagbar, was muss da für eine filigrane Probenarbeit vorgelegen haben um diesen Sound so erreichen zu können.
Der Sir hat uns seinen Bach-Koffer mit Instrumentalmusik von der Insel mit nach Germany mitgebracht und unter Beweis gestellt, es müssen nicht immer die Bach-Kantaten herhalten, nein, Johann Sebastian hat Instrumentalkompositionen, die eine Einmaligkeit besitzen. Der berühmte Satz 2 aus der Ouvertüre III D-Dur, BWV 1068 mit dem „Air“ – ist eines der weltweit bekanntesten Sätze von Bach – habe ich so noch nie gehört, das war ein weiterer Glücksfall, es vom überragenden EBS einmal serviert zu bekommen.
Der Abend war einfach Klasse, und der Besucher war voll aus dem Häuschen alles gelang zur Perfektion und keiner wollte den Heimweg antreten bis der Sir alleine auf das Podium kam und sich schmunzelnd den letzten Ovationen hingab. Wieder war ein Traumabend vergangen, von dem wir noch lange zehren werden.
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Ich habe diesen Bericht ja sehnsüchtig erwartet. Das waren ja wieder Erlebnisse der Extraklasse, da konntet ihr vor dem angestrebten „Sabbatjahr“ nochmal ne Mütze voll Gardiner nehmen. Iris, schade dass Du die H-Moll Messe von Herreweghe nicht kommentiert hast, das hätte mich interessiert, weil wir ja alle noch das Feuerwerk von Leipzig im Ohr haben.
Toll finde ich auch die Aufführungsorte, dieses Köthen sieht ja vom Bahnhof schäbbig aus, aber die Innenstadt ist ja wie eine aufgeräumte Puppenstube!
Schönes Nachzehren!
Claudia
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Na, das war ja ein riesiger Sack voller Geschenke! Das der alte Mertens immer noch jung geblieben zu sein scheint, freut mich. Die Schemellilieder habe ich wahrscheinlich seit 30 Jahren schon nicht mehr gehört oder gesungen … Kommt Gardiner nicht noch mal im September oder Oktober mit den Orchestersuiten nach Köthen, oder war es dieses Konzert? Iris, wenn ich reich bin, komme ich wieder mit auf eure Gardiner-Reisen! Sei gegrüßt von Alex
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Ich muss schon sagen, dass einfach etwas fehlt, wenn die Hauptsache fehlt. Die h-moll-messe kann ja bei der Besetzung nicht so schwach gewesen sein. Bauchgefühle sind oft sehr hinderlich. In diesem Zusammenhang „tschüss“ an alle hier im Forum, ich verschwinde für eine ziemlich lange Zeit dorthin, wo Bach erst im Kommen ist, in die Türkei.
muriel
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@Claudia,
das habe ich gewusst, dass Du gerne eine Rezension der h-moll-Messe von Herreweghe in St. Jakob, Bachfest 2010 in Köthen lesen möchtest. Diese Möglichkeit war am Ende von @Iris in ihrem Beitrag angefügt worden, ich gebe dir den Direktlink vom Blog zur PDF-Seite der Mitteldeutschen Zeitung einmal bekannt:
Klicke, um auf mitteldeutsche-zeitung-bachfest-2010-kothen.pdf zuzugreifen
Des weiteren hat sich Köthen ungemein positiv entwickelt, die Häuser erstrahlen in der Innenstadt in neuem Glanz und wirken sehr sehr einladend im Gegensatz zu Bernburg, wo wir unser Quartier bezogen hatten. Ein Manko in Köthen, Hotels absolute Mangelware und die Übernachtungsmöglichkeiten sehr begrenzt, hier müssen sich die Stadtoberen sehr schnell Gedanken darüber machen, wie sie dieses leidige Thema vom Tisch bekommen. @Iris und wir hatten im Brauhaus von Köthen mitbekommen, wie ein japanischen Ehepaar dringend nach einer Unterkunft nachsuchten, sie taten mir leid, ob sie etwas gefunden haben, konnten wir nicht mehr mitbekommen. Gardiner und seine Truppe übernachteten in Dessau, ca. 20 km östlich von Köthen gelegen..!!
@Alex, Gardiner ist nur noch in diesem Jahr in Köln am 15.10. mit einem Schumann- Brahms-Programm anwesend und am 6. Dezember mit Advents-Kantaten in der Berliner Philharmonie zu Gast, danach folgt leider sein Sabbat-Jahr, wie wir das wohl aushalten werden, ein Jahr ohne den Sir..???
Grüße an alle
Volker
P.S. Ein Foto vom Sir als Gladiator von EBS habe ich noch angefügt..!!
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Lieber Alex,
mir graut auch vor dem Sirlosen Jahr. Aber solange er danach nicht anfängt, Wagner zu dirigieren, bin ich mit allem einverstanden.
Herzl. Gruss
Iris
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Liebe Claudia,
zur h-moll-Messe ein ganz kurzes Statement: der Funke sprang nicht über. Für mich hat Herrweghe das Stück ohne besondere Artikulation einfach durchgezogen. Mich hat das ständige forte bedrückt; es gab keine Spannung – keine besonderen Höhepunkte. Vielleicht bin ich einfach nur Sir-geschädigt.
Lieben Gruss
Iris
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Hallo zusammen,
keine Sorge, nächstes Jahr wird kein Gardiner-freies Jahr! Er wird wohl nur einige Monate frei nehmen. Schon länger geplant ist eine Tour im Spätsommer. Das Programm ist aber noch nicht bestätigt.
Schöne Grüsse
Martin
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Liebe Iris!
Es freut mich, dass es Dir in Köthen so gut gefallen hat und Deine Erwartungen so erfüllt worden sind. Ich habe besonders gerne Deine Aufnahmen von der St.Agnes-Kirche mir betrachtet, denn die war immer geschlossen, wenn ich in Köthen war. Zuletzt am 3.6. bin ich auf den Turm von St.Jakob gestiegen und über die bemerkenswert windige Brücke zwischen den Turmspitzen geschlendert-, unten das Kirchenschiff war noch eine Baustelle. Im Bach-Museum des Schlosses konnte ich die Vorbereitungen zum Köthener-Bachfest leider nur im ‚Plakat‘ studieren.
Trotzdem-, im Spiegelsaal saß ich lange alleine und konnte mir im Geiste die Brandenburgischen Konzerte in der Gardiner-Fassung durch den Kopf gehen laSSEN:
GRUSS
WOLFGANG
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Lieber Wolfgang,
Ehre, wem Ehre gebührt; die Fotos hat Volker beigesteuert. Wenn ich weiß, dass Volker da ist, lass` ich meine Fotografiermaschine zu Hause.
Alles Gute!
Gruss
Iris
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Lieber Martin,
wenn Du Näheres über die neue Tour vom „Chef“ weisst, läßt Du uns es wissen? Ich brauch` wieder was, auf das ich mich freuen kann.
Herzl. Gruss
Iris
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Hallo Iris, melde mich nochmal nach lesen der Rezension von Herreweghe, die ja dank Volker verlinkt war. So richtig intensiv war der Bericht ja nicht, ich habe das Schürfen auf dem Grund der Gefühle vermisst. Es gibt ja verschiedene Ansätze, aber die Sir Interpretation kommt meinen Wunschvorstellungen auch sehr nahe. Aber Gott sei Dank sind die Geschmäcker ja verschieden…
Grüßle, Claudia
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