Die neue, futuristisch anmutende Rieger-Orgel in der Kasseler St. Martinskirche lädt zum Experimentieren und Staunen ein!

Eine neue Ära im Orgelbau hat begonnen.
Mit der Orgel verhalte es sich wie im wirklichen Leben: „Die größten Pfeifen stehen immer vorne“, scherzt Wendelin Eberle, seit 2003 Geschäftsführer der österreichischen Firma Rieger-Orgelbau. Besagte Pfeifen erstrecken sich über die ganze Westwand der Kirche. Zwar findet man derart in die Breite gestreckte Prospekte auch andernorts, etwa in der 2015 eröffneten Pariser Philharmonie, deren Orgel ebenfalls aus dem Hause Rieger stammt. In einem überschaubar großen Raum wie dem der Kirche St. Martin ist ein solch mächtiges Instrument mit über 5.700 Pfeifen jedoch eine absolute Ausnahmeerscheinung. Zum Vergleich: Die Konzertorgel der im Januar eröffneten Elbphilharmonie bringt es gerade mal auf 4.765 Pfeifen.

Die neue Rieger-Orgel in der St. Martinskirche zu Kassel, Weihe der Orgel Pfingsten 2017
Dass diese große Anzahl an Klangkörpern nicht vorrangig der Lautstärke dient, sondern vor allem eine immense Klangfarbenvielfalt hervorbringt, demonstriert Landeskirchenmusikdirektor Uwe Maibaum am Spieltisch auf der Empore in der fast bis zum letzten Platz gefüllten Kirche. Neben dem immensen Arsenal an Streicher- und Bläserstimmen bietet das Instrument auch drei Harmonikastimmen, ein Glockenspiel, perkussive Effekte und eine weltenrückt singende „Voix celeste“. Besonders wichtig für die flexible Gestaltung des Orgelklangs sind die Obertöne, die durch sogenannte Aliquotregister hinzugeschaltet werden können, von denen die Martinsorgel besonders viele besitzt. Die kleinste der Pfeifen könnte man locker in einem Fingerhut verstauen: Sie misst gerade einmal acht Millimeter, die größte bringt es auf über neun Meter und versetzt mit ihrer tiefen 34-Hertz-Stimmung die Luft in mehr fühl- als hörbare Schwingungen.
„Diese Orgel wird man niemals ganz begreifen”

Spieltisch der Orgel in St. Martin, Kassel © Stefan Korte/Galerie Neu, Berlin
„Wer meint, man könne diese Orgel jemals ganz begreifen – keine Chance. Hier hat man als Organist viele Jahre Entdeckerfreude“, schwärmt Maibaum und spielt damit auf die schier unerschöpflichen Möglichkeiten des Instruments an.
Ein Novum im Orgelbau sind nicht nur die in jeder Position elektronisch speicherbaren Registerzüge und die veränderbare Windstärke der einzelnen Systeme, sondern auch die vier in Vierteltönen spielbaren Register, die über das oberste der vier Manuale angesteuert werden können.
Hier hat der Organist – eine echte spieltechnische Herausforderung – 122 statt der üblichen 61 Tasten zur Verfügung. Vierteltöne werden in der zeitgenössischen Musik häufig verwendet – allerdings kaum in Orgelkompositionen – das könnte sich mit dem neuen musikalischen Flaggschiff in St. Martin nun ändern.
Schon lange ist St. Martin ein Podium für Neue Musik
Schon lange ist das Gotteshaus am Martinsplatz ein überregional bedeutsames Zentrum für „Neue Musik in der Kirche“, der hier seit über 40 Jahren ein gleichnamiges Festival gewidmet ist. Daher gab es schon vor 25 Jahren Überlegungen, die 1964 erbaute alte Orgel gegen ein neues Instrument auszutauschen, das neben der Pflege der musikalischen Tradition insbesondere den Ansprüchen zeitgenössischer Partituren entgegenkäme. 2012 war es endlich soweit: Die Firma Rieger-Orgelbau erhielt den Zuschlag. Nach einer fünfjährigen Planungsphase wurden die Einzelteile des Instruments von rund 40 Mitarbeitern in neun Monaten hergestellt. Weitere drei Monate benötigte das zehnköpfige Team für den technischen Aufbau in der Kirche, während die Intonation der Pfeifen fast ein halbes Jahr in Anspruch nahm.

Die neue Rieger-Orgel in der St. Martins-Kirche Kassel
Der große Zeit- und Arbeitsaufwand spiegelt sich im Preis wider: Stolze 2,5 Millionen Euro hat das Projekt verschlungen, erfahren die Besucher des „Orgelforums“ am Nachmittag, an dem Pfarrer Willi Temme, Kirchenmusikdirektor Eckhard Manz, Rieger-Orgelbau-Chef Wendelin Eberle und Kuratorin Susanne Pfeffer den „Weg zur neuen Orgel“ mit Fakten, Hintergrundinformationen und Kommentaren untermauern. Zur Hälfte wurden die Kosten des Instruments von der Evangelischen Kirche Kurhessen-Waldeck beglichen, 800.000 Euro stammen aus privaten Spenden, den Rest trägt die Kasseler Kirchengemeinde. Abgeschlossen ist das Großprojekt mithin noch nicht, denn die Hauptorgel mit ihren 86 Registern, vier schwellbaren Werken und zehn unabhängig voneinander steuerbaren Windsystemen soll im nächsten Jahr noch durch ein fahrbares Modul auf dem Boden des Kirchenschiffs ergänzt werden. Hierzu hofft man auf weitere 120.000 Euro, die über Pfeifenpatenschaften eingesammelt werden sollen.
Wehende Haare machen den „Atem” der Orgel sichtbar
Außerdem gibt es Überlegungen, die Südwand der Kirche zu durchbrechen und im Außenbereich eine Freiluftorgel nach dem Vorbild der berühmten „Heldenorgel“ der Festung Kufstein zu errichten, verrät Eberle nach dem Podiumsgespräch bei Kaffee und Kuchen auf dem sonnigen Kirchplatz.
Orgel in St. Martin, Kassel © Stefan Korte/Galerie Neu, Berlin
Gar kein sonniges Gesicht macht Yngve Holen, der 1982 in Braunschweig geborene norwegisch-deutsche Künstler, der gemeinsam mit dem Architekten Ivar Heggheim für die Gestaltung des Instruments verantwortlich zeichnet. Seine Idee war es, vor den Pfeifenlabien über die gesamte Orgelbreite einen Vorhang aus langem Kunsthaar anzubringen. 71 programmgesteuerte Ventilatoren sollen daür sorgen, dass die dunkle ähne sich bewegt, um – abgestimmt auf das Spiel des Organisten – die Luftstöme, den Atem des Instruments sichtbar zu machen. Nur leider vergaß man bei der ersten Vorührung am fühen Nachmittag, die Ventilatoren einzuschalten.
Für das abendliche Eröffnungskonzert des achtwöchigen Orgelfestivals hat KMD Eckhard Manz ein klug austariertes Programm zusammengestellt. Es reicht von Bach, Liszt und Franck über Ligetis „Volumina” und Messiaens „Apparition de l’église éternelle” bis hin zu Uraufführungen von Christian Wolff und Sergeji Newski. Der Klangeindruck ist überwältigend. Neben der beeindruckenden Bandbreite an Registern, dem Spiel mit Obertönen, die zuweilen wie Schwärme silberner Glöckchen durch den Raum schwirren und den Vierteltonläufen, die den Eindruck eines nahtlosen Glissandos erwecken, überzeugt das Instrument vor allem durch sein ausgewogenes, unaufdringliches und sehr transparentes Klangbild. Besonders in J.S. Bachs „Passacaglia“ staunt man über die transparente Auffächerung der einzelnen Stimmen, die in dem auf Wandbreite gestreckten Prospekt quasi wie in einem Orchester räumlich angeordnet sind
„Die Orgel hat viel Poesie und unendlich viele Farben. Wir wollen mit ihr nicht auftrumpfen, sondern verzaubern“, sagt Manz. Das gelingt schon an diesem ersten Abend. Und auch die Haare spielten diesmal mit.
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Disposition der Orgel als PDF-Datei
Ein erster Klangeindruck der neuen Orgel:
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Die Festival-Daten im Überblick:
Zeitraum: 4.6. – 27.8.2017
Mitwirkende: Felix Ponizy, Hans Christian Martin, Franz Gerhardt, Eckard Manz, Daniel Glaus u. a. Ort: Kassel
In eigener Sache:
Im Blog: Volkers Klassikseiten J.S. Bach habe ich vor Jahren eine Artikelserie verfasst mit dem
Titel:
Auf den Orgelspuren von J.S. Bach, seine Wirkungsstätten und Orgelabnahmen!
Einen inhaltsreichen Artikel habe ich über die St. Martinskirche in Kassel verfasst.
Ein Textauszug:
Am 21. September 1732 reiste J.S. Bach mit Anna Magdalena nach Kassel. Nach der Orgelprüfung erfolgte am 28. September 1732 durch J.S. Bach das Einweihungskonzert in der St. Martins-Kirche.
Es erklang höchst-wahrscheinlich J.S. Bachs „Dorische Toccata und Fuge in d-moll“, BWV 538, ein ungemein virtuoses Stück aus seiner Weimarer Zeit.
Foto: Bach-Inschrift an der St. Martinskirche Kassel
Der zwölfjährige Erbprinz Friedrich von Hessen-Cassel schenkte Bach aus Begeisterung einen edelsteingeschmückten Ring, da er die Kunst der Füße Bachs bewunderte, die so beflügelt über die Pedale eilten, dass die wuchtigsten Klänge wie Blitz und Donner in den Ohren der Hörer widerhallten…….
Herzliche Grüße
Volker
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Schade, dass nur auf Facebook Kommentare für Volkers Klassikseiten abgegeben werden.
Ich stelle sie der Allgemeinheit hier zur Kenntnisnahme:
Wolfgang Adam
Als ich vor 3 Wochen auf der Dokumenta war, hatte meine Freund in der Martinskirche die Orgel mir gezeigt. Ich habe im Mittagskonzert sie dann spielen gehört. Fast wichtiger ist aber, dass J.S.Bach auf einer Durchreise auf der im Krieg verbrannten alten Orgel ein viel beachtetes Werk vorgespielt hat.
Martin Brunnemann
Das wäre es, wenn man das noch hören könnte.
Karin Sommer
Karin Sommer Auch im Orgelbau gibt es keinen Stillstand! Bach hat immer sehr interessiert nach Orgelneubauten geschaut und sie abgenommen. Die Kriege sind etwas Fürchterliches. Wie viele Bach-Orgeln sind dadurch zerstört worden so auch geschehen in der St. Martinskirche in Kassel, ein Jammer..!! 🙂
Karin Sommer
Karin Sommer Danke lieber Volker für diesen großartigen Bericht und über deinen Hinweis: „Auf den Orgelspuren von J.S. Bach“ was ich mir durchgelesen habe. Deine Eindrücke und Artikel sind großartig und empfehle sie jedem Bach-Freund, die zu lesen. Danke Danke ..!!
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Danke liebe Karin für deine immense Tätigkeit im Blog.
Die neuen Portale können vieles zerstören, darunter zu leiden hat ebenfalls der Blog „Volkers Klassikseiten J.S. Bach“. Die Kommentare werden auf Facebook abgegeben und sind leider hier nicht sichtbar. Facebook müsste eine Möglichkeit schaffen, dass diese Kommentare auch zum Blog verlinkt werden könnten.
Dir Volker ein herzliches Danke für deine Top Neuigkeiten in der Klassikszene. Wir bleiben auf dem Laufenden dank deiner großartigen Artikel.
Grüße
kwest
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Ein großartiger Bericht auf Facebook zu der neuen Rieger-Orgel in der St. Martinskirche Kassel:
Sebastian Küchler-Blessing (Organist aus Essen)
12. August um 01:27 ·
Kassel, Martinskirche.
Orgel von Rieger, 2017
Dieses Instrument ist schlicht unfassbar. Von ungeheurer Klangkraft, die wohl gezähmt sein will, nach kundiger Hand verlangt und es dem Spieler nicht leicht macht; die ihn verführt mit angenehmer Klangfülle am Spieltisch, die zugleich im Raum aber von einer Wucht ist, dass man nicht mehr von einer Orgel, sondern vielmehr von einem Tier, von einem großen, wilden, ungebändigten Wesen sprechen möchte.
Und dabei bietet sie einen Klang, einen Farbenreichtum, der nicht zu glauben ist, eine Spieltraktur, die dazu perfekt passt und unmittelbare und wirklich ideale Rückmeldung gibt, eine nahezu perfekte Anlage des Spieltischs und aller Spielhilfen, wie sie der Spieler vor sich hat – es ist ein Instrument, das ich ohne zu zögern neben die Orgeln von etwa Naumburg, Neresheim, Barth, Schramberg, Annaberg, Herford (vor der schimmelpilzbedingten Ausreinigung), Speyer und natürlich Essen stellen würde.
Für neue Musik birgt sie ideale Klangmöglichkeiten, gleichzeitig sind aber auch die vielfältigen und stets unterschiedlichen Farben (Abbé Vogler wäre hier glücklich: „Frage stets jedes Register: Was wirkst du allein und was trägst du zum Ganzen bei?“) für alte Musik, für Bach hervorragend – und Literatur wie Reubke hier zu arbeiten führt fast zwingend zum Gedanken, dass er es sich so (und zwar genau so) vorgestellt haben muss.
Es ist ein unglaubliches Privileg, ein solches Instrument zu spielen, viel Zeit damit zu erleben und viel zu lernen – über die konkrete Literatur, über grundsätzliche, vielleicht auch neue Wege zu ihrer Interpretation, übers Musizieren an sich, über die eigene Persönlichkeit und – schlicht – über das Sein.
Wendelin Eberle und seinen Mitarbeitern von Rieger Orgelbau, allen voran Georg Pfeifer (maßgeblich an der Konstruktion beteiligt) und Stephan Niebler (Intonation!!!), kann man nur zu diesem Meisterwerk gratulieren!
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Danke liebe Karin, ein wunderbarer Bericht von Sebastian Küchler-Blessing, über die neue Rieger-Orgel in der Martinskirche Kassel.
Der Essener Domorganist Sebastian Küchler-Blessing ist hier in Ostwestfalen kein Unbekannter, er hat vor ein paar Jahren in Herford in der Kirche Stift Berg den Improvisations-Wettbewerb gewonnen.
Grüße
Volker
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Danke Volker!
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