Hallo Bachfreunde!
„Rede vom toten Markus-Passions-Gebäude herab‘: Die Bach-Passion, die es nicht gibt.
Viele Bach-Experten, von Smend über Hellmann bis zu dem in unserer Gemeinde lebenden Prof. J.Koch haben sich die Frage gestellt: wie ist der aufgrund des Markus-Evangeliums gedichtete Passions-Text des Leipzigers Henrici musikalisch so zu unterlegen, dass er Bach-Dignität erreicht. Da die ‚Orginalvertonung‘ fehlt, wird alles neu belebt, was vor 1731 in weltlichen Werken entstanden war und im Parodie-Verfahren von Bach herangezogen hätte werden können. Fragen waren auch: was passt vom Versmaß; was war der damaligen Leipziger Gemeinde von Bach-Chören/Arien noch unbekannt.
————————————————————————————

Kantorei Herrenhausen J.S. Bach Markus Passion
Am Samstag, 13.3.2010 – durfte ich mit Volker zusammen eine verdienstvolle Aufführung der „Herrenhauser Kantorei“ erleben, in der ein Zeitgenosse Bach’s zur ‚Amtshilfe‘ herangezogen wurde: Reinhard Keiser, Hamburger Opernhaus-Direktor und Bach’s Freund. Gewiss war es für uns ein gelungener Abend. In der beeindruckenden Jugendstil-Kirche trat eine ‚wohlbestallte Kirchenmusik‘ auf.

Camerata Instrumentale Hannover - Chor: Kantorei Herrenhausen

von links: Evangelist Jens Zumbült, Tenor - Dieter Goffing, Bass - Goetz Phillip Körner, Tenor

Gesangs-Solisten von links: Götz Philip Körner, Tenor, - Jens Zumbült, Tenor-Evangelist, - Meinhard Dollansky, Countertenor, - Ester Mertel, Sopran
Im sonst ausgewogenen Vokalquintett blieb nur der (wahrscheinlich) indisponierte Countertenor Meinhard Dollansky unter Niveau, der Chor bestand seine Sache gut. Im Eingangs- und Schlusschor-, entnommen aus der Trauerode BWV 198, wurde ich sogleich zu einem mir gewohnten Bach-Stil geführt. In den Chorälen war noch viel Bach-Wärme enthalten. In den Rezitativen, Dialogen und Turbae-Chören kam dann ein ABSTURZ.
Warum das Ganze?
Nur weil im Nekrolog und nach Berichten eines Bach-Sohns von fünf Passionen berichtet wird, sucht die Fachwelt seit Smend eine anscheinend verlorene ‚Passions-Musik Bach‘s auf Markus‘ zu rekonstruieren. Wir kennen aus dieser Annahme keine Note, besitzen lediglich ein Textbuch einer „Passionsmusik nach dem Evangelisten Marco“. Dies Text-Gedicht stammt von Bachs Librettisten Christian Friedrich Henrici (alias Picander) und findet sich in dessen „Ernst-, Scherzhafften und Satyrischen Gedichten“ von 1732. Als Aufführungsdatum teilt Picander den Karfreitag 1731 mit. Festzuhalten ist: da kennen wir einen Textdichter, den Bach immer zuerst in seinem Sinne bearbeitet hat-, mehr noch: durch Bach erst wurde der Gelegenheitsdichter Henrici, der im Hauptberuf Postobersekretär war, aufgewertet als Librettist vieler Leipziger Kantaten und Passionen. Bach’s Zusammenarbeit mit Henrici ging aber nur, weil Bach immer glättend und akzentuierend eingegriffen hat. Schwülstigkeiten oder nicht in Bach’s Theologie passende Ausdrücke wurden gestrichen.
Wenn ich am Libretto Picander’s entlang gehe, fallen mir doch einige ‚Wortungetüme‘ und Defizite auf, die ich aus Bach’s anderen Werken nicht kenne. Sie klingen fremd und entsprechen nach meiner Kenntnis nicht Bach’scher Passionsdeutung.
a) Der Passions-Bericht: Da der Markus-Text festlag, kann ich im Markus-Bericht selbst keine Textkritik üben. Meine Kritik gilt nur den Rezitativen und freien Dichtungen. Zur Vertonung dieser bezog man sich wie gesagt in der Herrenhäuser Auführung auf den zeitgenössischen und von Bach geschätzen Opernkomponist Reinhard Keiser. Keiser vertont aber die Rezitative völlig undramatisch und verzichtet auf die für Bach so typische Tonsprache. Bereits Bachs Zeitgenosse, der Musikkritiker Mattheson, stellte diese Tonsprache als Bach’s Spezifikum dar. Er urteilte: „Bachs Musik ist nichts anderes als Tonsprache oder Klangrede.“ Um so mehr fällt dann auf, dass die Christusworte mit den Streichern grundiert sind.
Jetzt klingt Christus zwar nach Bach, aber es fehlt immer noch z.B. das ‚hoheitsvolle‘, das z.B.den Christus der Johannespassion so unverwechselbar macht. Auch die sog. Turbae-Chöre lagen ja textlich fest, sind aber als Äußerungen der Volksmenge äußerst knapp und instrumental schwach unterlegt. Es fehlen die ‚Affekte‘, die gerade in den Volkschören unbedingt gebraucht werden. Am ehesten konnte noch der Chor Nr. 30 dies bringen. Dieser etwas ‚gebremste‘ Turbae erinnerte mich an die ‚Glashütter Passion‘ eines Anonymus aus der Nach-Schütz-Zeit.
b) Vgl. nochmal den Text des Markus-Gedichts: http://www.emmaus.de/ingos_texte/markus_txt.html
c) Die freien Dichtungen:
Chor 1: ‚Geh Jesu, geh zu Deiner Pein. = zu platt !
Arie (Alt) Nr.7: Mein Heiland, dich vergess ich nicht! = rührend !
Choral 9: ‚… bessre bald Dein Leben‘ = simple Vertröstung !
Choral 11: ‚Es wird noch alles werden gut…‘ = Billig !
Arie (Sopran 13) Formulierung ‚er ist vorhanden‘ = kein Bach-Begriff !
Choral 18+21+23: Passt genau! Wie auf einer Insel der Seligen, flüchte ich mich auf diese Bach-Choräle.
Choral 27: ‚Menschenkraft‘ = kein Bach-Begriff !
Arie (Sopran) 33: ‚Welt und Himmel nehmt zu Ohren, Jesus schreit überlaut …‘: 1. ‚nehmt zu Ohren‘, habe ich sonst nie in einem Bach-Text gehört, 2. ‚überlaut‘ ist so eine platte Formulierung. Dass Jesu Schreien am Kreuz mit ‚überlaut‘ ausgedrückt wird, finde ich bei Bach sonst nicht.
Schlußchor 37: ‚Grab und Leichenstein‘ sind aus Schlusschor Matthäus-Passion (Text ja auch von Picander) bekannt. Diese beiden Begriffe werden aber nie mit ‚ ich will mich bei Jesu weiden‘ (Vorstellung von Jesu=Hirte – Mensch=Schaf) verknüpft. Von ‚Grabschrift‘ ist bei Bach auch nie die Rede. Man kann an die frühe (1713 ?) Weimarer Kantate BWV 63 ‚Christen ätzet diesen Tag in Metall und Marmorsteine‘ denken, in der als Librettist ein Pfarrer aus Halle vermutet (vgl. Dürr, Kantaten S.108). Nachdem der ‚reife‘ Bach aber in Leipzig Kirchenmusiker ist und im Anstellungsvertrag die Konkordienformel unterschrieben hatte (= Theolog. Charta, die den luth-reformat.Glauben zusammenfasst), muss Bach lutherisch im Sinne der ‚Freiheit eines Christenmenschen‘ gedacht haben: Jesu Schicksal soll nicht ‚eingemeißelt‘ werden, sondern ist eher dem ‚ängstlichen Gewissen‘ zu empfehlen, das es in Freiheit annimmt oder eben nicht.
Vgl. dazu nochmal in Nr.37 den Schluss des Markus-Gedichts: Bei deinem Grab und Leichenstein will ich mich stets, mein Jesu, weiden, und über dein verdienstlich Leiden von Herzen froh und dankbar sein. Schau, diese Grabschrift sollst du haben: „Mein Leben kömmt aus deinem Tod, hier hab‘ ich meine Sündennot und Jesum selbst in mich begraben.“
Mein Fazit:
Man soll die Markus-Passion des Picander als Sprachgedicht stehen lassen. Die Vertonung-Versuche mit Bach-Parodien sind gescheitert.
Man sollte würdigen, dass Bach auch an den Texten seiner Librettos gearbeitet hat. Erst mit dieser Textarbeit konnte seine authentische Tonsprache entstehen.
Es ist schade, dass einmalige Bach-Arien ( z.B. BWV 54, 1 für Alt) unter Wert ‚recycelt werden‘. Bach’schen Töne sollen einem nichtsagenden Text tragen.
Zugegeben: Da waren in Eingangs- und Schlußchor Bach-Parodien auch mal annähernd gelungen, Die Choräle (2 davon aus WO) aus Bach’schen Choralsammlungen hatten mich in der Aufführung oft für vorhergehende ‚Grausamkeiten‘ entschädigt
Letztlich kann ich Bach aber nicht auf die wackelige Grundlage ‚Markus-Passion‘ stellen. Weniger Bach ist oft mehr.
Noch 2 Literaturtipps: Lucia Haselböck, Bach-Textlexikon 2004
Johann Boumann, Musik zur Ehre Gottes, daraus besonder S.44-52, Die musikalisch-rhetorischen Figuren
Als PDF ist eine Anlistung der Versuche einer Rekonstruktion der Markus Passion von J.S. Bach hinterlegt und einsehbar.
Link: Rekonstruktionen der Markus Passion J.S. Bach
Gruß @Wolfgang
—————————————-
Ein Link zu den Fotos der Aufführung J.S. Bach Markus-Passion durch die Kantorei Herrenhausen nachstehend:
Link: http://picasaweb.google.com/meinharderich/JSBachMarkusPassionHerrenhauserKircheAm13032010?authkey=Gv1sRgCKj9h7u4odCPowE&feat=directlink

Gefällt mir:
Gefällt mir Wird geladen …