stelle ich für jeden Sonntag im Kirchenjahr den Besuchern von
„Volkers Klassikseiten J.S. Bach“
eine Hör- oder Sehprobe und eine „Bach-Kantaten-Beschreibung“ für den entsprechenden Sonntag-Feiertag im Kirchenjahr zur Verfügung.
Am 06.05.2012
begehen wir den Sonntag ”Kantate“
Der Name des Sonntags Kantate leitet sich vom Beginn der lateinischen Antiphon ab: Cantate Domino canticum novum, quia mirabilia fecit!. (Ps 98, 1a;).
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Der Sonntag Kantate ist der Singesonntag, was allerdings nicht durch das Evangelium deutlich wird. Andere Perikopen gehen schon eher auf die singende Antwort der Gemeinde auf Gottes Taten ein, d.h. sie berichten vom Lobpreis der Gemeinde. Der Sonntag Kantate befasst sich, so wie schon der Sonntag Jubilate, mit einer Form der Antwort der Gemeinde, was im Gottesdienst dann auch zum Tragen kommen soll.
Am Sonntag Kantate erfahren wir, dass das Lied wesentlicher Bestandteil des gemeindlichen Lebens ist. Das lobpreisende Lied kann nicht nur die Herzen fröhlich machen sondern auch Türen aufschließen; das Klagelied hilft nicht nur, Not und Sorgen abzulegen, sondern vermag auch neue Hoffnung zu geben. Der Liederschatz der Kirche ist unermüdlich groß, und es ist gut, dass das „Gesangbuch“ des jüdischen Volkes, der Psalter, darin eine wichtige Rolle spielt, denn die Psalmen sprechen wie nur wenige andere Lieder tief aus dem Herzen des Beters.
Wochenspruch:
Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder! (Ps 98, 1a)
am Sonntag, 6. Mai, 10 Uhr, den evangelischen Festgottesdienst
zum Jubiläum 800 Jahre Anhalt. Auch MDR FIGARO ist live dabei.
Als im Jahr 1212 der Askanierfürst Heinrich I. die Regentschaft übernahm, begann die eigenständige Geschichte der Region Anhalt. Von der Reformation bis zur Moderne – man denke an das Bauhaus in Dessau – gingen von hier kulturelle und theologische Impulse für ganz Deutschland aus.
Das Jubiläum begeht die Evangelische Kirche Anhalts mit einem festlichen Gottesdienst aus St. Jakob in Köthen,musikalisch gestaltet
Kantaten-Beschreibung: BWV 108 „Es ist euch gut, dass ich hingehe“
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BWV 108 „Es ist euch gut, dass ich hingehe“
Wenn wir uns aus Bachs erstem Kantatenzyklus in seinen zweiten Leipziger Jahrgang begeben, die sich beide dem gleichen theologischen Grundgedanken widmen, sind wir inzwischen nur zu sehr daran gewöhnt, in der Art und Weise, wie er sich seinem Thema nähert und die Metaphorik einsetzt, erstaunlichen Gegensätzen zu begegnen.
Darum trifft es uns wie ein Schock, wenn wir nun feststellen müssen, dass er zweimal hintereinander das gleiche formale Gerüst verwendet. Ich möchte wetten, dass aufgeschlagen auf seinem Notenpult, als er sich im April 1725 hinsetzte, um BWV 108 „Es ist euch gut, dass ich hingehe“ zu komponieren, Wo gehest du hin? aus dem Vorjahr lag: Die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Kantaten sind einfach zu groß, um zufällig sein zu können. Beide beginnen nicht mit dem üblichen Chor, sondern mit einem Bass-Solo (vox Christi) und sparen den Chor für das Ende (BWV 166) oder die Mitte und das Ende (BWV 108) auf. Keines der beiden Werke enthält ein Sopran-Solo (kann es sein, dass die Knaben in zwei aufeinander folgenden Jahren an Windpocken erkrankt waren, oder hatte es irgendeinen unerfindlichen theologischen Grund?). Beide Kantaten haben als zweiten Satz eine gewichtige Tenorarie, jede mit einer ausgehaltenen Note, die besonders betont wird: ‚stehe’ in BWV 166, ‚glaube’ in BWV 108. Beide Werke sind auf einer Art arpeggierten Tonleitertreppe errichtet, deren Stufen darauf hindeuten, dass der Heilige Geist zu Pfingsten herabsteigen wird (in BWV 166 abwärts führend von B nach g, c, D, B und g, in BWV 108 von A nach fis, D nach h). Es ist bezeichnend, dass sich BWV 108 der zentralen Frage, die in BWV 166 knapp abgehandelt wurde, ausführlicher widmet. ‚Wo gehest du hin?’ bringt im folgenden Jahr eine Erklärung: ‚Es ist euch gut, dass ich hingehe…’.
Zu den Sätzen, die auf mich den tiefsten Eindruck gemacht haben, gehört zunächst einmal die Tenor-Arie mit obligater Violine, ‚Mich kann kein Zweifel stören’ (Nr. 2) – eine mächtige Nummer, die recht verschachtelt angelegt, aber wunderbar ausgearbeitet ist und ein bisschen an Brahms’ ungarische Zigeunerweisen erinnert; dann die strenge Chorpolyphonie von Nr. 4, ‚Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird’ – drei dicht gedrängte Fugen im Motettenstil. Sie wirken widerspenstig auf dem Papier, bringen jedoch in der Aufführung ihren Geist überzeugend zur Geltung. Und schließlich die herrliche 6/8-Arie für Alt und Streicher, ‚Was mein Herz von dir begehrt’ (Nr. 5), die mit ihrer gebrochenen Melodielinie und ihrem durchscheinenden Satz für die erste Violine eine tiefe Sehnsucht erkennen lässt, wie sie der Psalmist in Psalm 42 besingt: ‚Wie der Hirsch dürstet nach frischem Wasser…’.
stelle ich für jeden Sonntag im Kirchenjahr den Besuchern von
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eine Hör- oder Sehprobe und eine „Bach-Kantaten-Beschreibung“ für den entsprechenden Sonntag-Feiertag im Kirchenjahr zur Verfügung.
Am 29.04.2012
begehen wir den Sonntag ”Jubilate“
Der Name des Sonntags Jubilate leitet sich vom Beginn der lateinischen Antiphon ab: Jubilate Deo, omnis terra!. (Ps 66, 1;).
Am Sonntag Jubilate wird das Evangelium von Jesus als dem Weinstock gelesen. Das Thema „Die neue Schöpfung“ wird jedoch nicht ohne weiteres in diesem Evangelium deutlich, sondern in den anderen Lesungen, worin auf die Veränderungen hingewiesen wird, die durch Jesu Auferstehung bewirkt wurden und werden. Interessant ist die Wahl der priesterlichen Schöpfungsgeschichte als alttestamentlicher Lesung: hier wird das, was das Volk Israel schon lange erkannt hat, aufgegriffen: Gott hat die Schöpfung gut geschaffen, ohne Fehl und Tadel.
Das zahreiche Elend ist auf das Versagen des Menschen zurückzuführen, den Willen Gottes auszuführen. Durch Christus sind wir nun dazu befähigt. Am Sonntag Jubilate werden wir ermahnt, am rechten Weinstock zu bleiben, der Christus ist. Nur dann werden wir auch den Tod überwinden, weil Christus ihn überwunden hat. Dankbar hören wir die Verheißung von Jesu Wiederkunft. Durch seine Auferstehung haben auch wir teil an der neuen Schöpfung, die schon jetzt anbricht und bei seinem Kommen vollends heraufgeführt wird.
Wochenspruch:
Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. (2. Kor 5, 17)
entstand in Weimar, kurz nachdem Bach 1714 zum Konzertmeister ernannt worden war, und er nahm die Kantate zehn Jahre später in seinem ersten Amtsjahr in Leipzig wieder auf. Diese zweite Version vom 30. April 1724 war es, die wir in Altenburg aufführten. Sie beginnt mit einer hinreißenden Sinfonia, in der, wie wir uns vorstellen können, die tränenreiche Aussaat des Wintergetreides geschildert wird. Die klagende cantilena der Oboe, die an Marcello oder Albinoni denken lässt, bestimmt die Atmosphäre des einleitenden tombeau, eines der eindrucksvollsten und eindringlichsten Kantatensätze, die Bach bis zu diesem Zeitpunkt komponiert haben mag. Wenn man sich diesem Stück von rückwärts nähert, aus der langen Vertrautheit mit dem Crucifixus der Messe in h-moll (zu dem dieser Satz später geworden ist), überrascht der gröbere Zuschnitt und das brennende Pathos. Statt der vier Silben Cru-ci-fi-xus – vier Hammerschläge, die Christi Fleisch auf das Holz des Kreuzes nageln – widmet Bach dem Titel seiner Kantate vier verschiedene Gesangslinien (‚Weinen… Klagen… Sorgen… Zagen’). Jedes Wort, ein herzzerreißender Schluchzer, dehnt sich über den Taktstrich und den viertaktigen passacaglia-Bass hinaus. Diese Worte, so erfahren wir in der motettenartigen Folge, ‚sind der Christen Tränenbrot, die das Zeichen Jesu tragen’. Auch wenn ich die Crucifixus-Fassung dirigiere, geht mir das dreimal nachdrücklich artikulierte ‚Angst… und… Not’ (das später zu ‚passus est’ geworden ist) nicht aus dem Sinn.
Wenn das der Nadir, der tiefste Punkt ist, wie der Gelehrte Eric Chafe sagt, ‚wohin der Mensch zu äußerster Qual gebracht wurde, weil ihm die Sünde bewusst ist’, dann sind diese Empfindungen selten, wenn überhaupt jemals, auf so erschütternde Weise in der Musik ausgedrückt worden. Unsere Zeit in Weimar zu Beginn unserer Pilgerreise machte mir auch deutlich, dass diese Musik weniger als drei Kilometer von den Buchenwäldern entfernt, wo Goethe und Liszt umherzustreifen pflegten, komponiert – und uraufgeführt – worden war, jenem Ort, der später eine der düstersten Stätten der Erde werden sollte: Buchenwald.
In diesen unendlich tiefen Abgrund lässt Bach eine Rettungsleiter hinab. Ihre einzelnen Sprossen werden, Satz für Satz, in die Musik gebrannt, die in Terzintervallen aufsteigt, wobei die Molltonart mit ihrer verwandten Durtonart wechselt: f, As, C, Es, g, H. Die ‚Leiter’ ist als Mikrokosmos auch im accompagnato (Nr. 3) vorhanden, das die Worte des heiligen Paulus vertont: ‚Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen’. Während sich der Continuobass umherschweifend die Oktave hinab bewegt (von c nach C), steigt die erste Violine eine diatonische C-Dur-Skala hinauf – eine Gegenbewegung, welche die (irdische) Welt der Drangsal mit dem (himmlischen) Reich Gottes verknüpft. Der theologische Dualismus, der hier der Komposition zugrunde liegt, kann auf die Formel gebracht werden: Wir müssen uns in dieser Welt mit einem gehörigen Maß an Trübsal abfinden, während wir an der Hoffnung festhalten, in der nächsten Welt glücklich zu sein.
Dieser Dualismus wird in der Alt-Arie (Nr. 4) weiter vertieft. So wie offenbar die unergründliche Natur Gottes in der jüdisch-christlichen Tradition ausgedrückt wurde, indem man ihm kontrastierende Attribute zuschrieb, zum Beispiel Hirte und Lamm, Eckstein und Stolperstein, postuliert Bach hier eine Verschmelzung alliterierender Gegensätze – ‚Kreuz und Krone’, ‚Kampf und Kleinod’ – als Symbol für die Art und Weise, in der das gegenwärtige und zukünftige Leben miteinander verknüpft sind. Linderung verschafft die aufmunternde Bass-Arie ‚Ich folge Christo nach’, ein Triosonatensatz nach italienischer Art, der wie ein englisches Osterlied beginnt: ‚This joyful Eastertide’. Weitere Pein wird jedoch mit der Tenor-Arie folgen: ‚Sei getreu’. Selbst in diesem frühen Stadium der Entwicklung seiner Form der Kantate geht Bach auf der Suche nach hermeneutischer Wahrheit keine Kompromisse ein; er ist gewillt, eine reizvolle Oberfläche der sich windenden Melodielinie zu opfern, um die unendliche Schwierigkeit auszudrücken, die es bedeutet, unter Anfechtung ‚getreu’ zu bleiben. Ein mühseliger Weg ist nur zu ertragen durch die Gegenwart der Choralmelodie Jesu, meine Freude, die von einer Trompete angestimmt wird – gleich einer Hand, die auf der letzten Sprosse der Leiter dem Gläubigen in seinem Kampf, zum Glauben zu finden, gereicht wird. Ein abschließender Choral, ‚Was Gott tut das ist wohlgetan’, mit Trompete im Diskant bestätigt Luthers Ziel für den Christenmenschen: ‚Nur im Glauben an den gekreuzigten Christus findet ein Mensch Gnade’.
Am Sonntag Jubilate begann in Leipzig nach alter Tradition die Ostermesse, zu der drei Wochen lang so viele Besucher – Handwerker, Kaufleute aus dem In- und Ausland, Buchhändler, Höker, Straßenkünstler – herbeiströmten, dass sich während dieser Zeit rund 30.000 Menschen in der Stadt aufhielten. Bach, der die Veröffentlichung der drei Teile seiner Clavier-Übung zeitlich so terminierte, dass sie zu den Messen erschienen, wird sich der Notwendigkeit bewusst gewesen sein, dass bei dieser Gelegenheit eine besondere Musik dargeboten werden musste, da sonntags keine Geschäfte abgewickelt werden durften und Besucher und adlige Herrschaften, wie sein Vorgänger Kuhnau dargelegt hatte, in den Hauptkirchen gewiss ‚etwas Schönes’ hören wollten.
stelle ich für jeden Sonntag im Kirchenjahr den Besuchern von
„Volkers Klassikseiten J.S. Bach“
eine Hör- oder Sehprobe und eine „Bach-Kantaten-Beschreibung“ für den entsprechenden Sonntag-Feiertag im Kirchenjahr zur Verfügung.
Am 22.04.2012
begehen wir den Sonntag ”Misericordias Domini“
Der Name des Sonntags Miserikordias Domini leitet sich vom Beginn der früheren lateinischen Antiphon ab: Misericordias Domini plena est terra. (Ps 33, 5;).
Der Sonntag Miserikordias Domini wird durch das Evangelium vom Guten Hirten bestimmt. Der Hirte sorgt für seine Schafe, die ihm treu folgen. Gleichzeitig wird aber auch der Hinweis laut auf die „falschen Hirten“, die nur an ihren eigenen Vorteil denken. Entscheidend ist jedoch die Zusage Jesu, dass er als der gute Hirte sein Leben hingibt für die Schafe. Das bedeutet, dass wir umfassenden Schutz genießen und uns vor nichts zu fürchten brauchen, auch wenn es dunkel um uns wird.
Am Sonntag Miserikordias Domini hören wir das Evangelium vom Guten Hirten und freuen uns, dass Gott das Verirrte sucht und der Herde wieder zuführt. Froh sind wir auch darüber, dass er uns stets zu einer frischen Quelle führt, so dass wir keinen Note leiden müssen.
Wochenspruch:
Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben. (Joh 10, 11a. 27-28a)
Kantaten für den Sonntag: Quasidomogeniti und Misericordias Domini
Bachkirche, Arnstadt am 29. bis 30. April 2000
Basilique St. Willibrord, Echternach am 07.05.2000
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Kantaten-Beschreibung: BWV 112 „Der Her ist mein getreuer Hirt“
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Bach hatte etwas ganz anderes im Sinn, als er 1731 die dritte Kantate für diesen Sonntag komponierte, BWV 112„Der Herr ist mein getreuer Hirt.“ Als späte Erweiterung seines Choralkantaten-Jahrgangs 1724/25 enthält sie alle fünf Strophen einer metrischen Paraphrase von Psalm 23, diesmal von Wolfgang Meuslin, verwendet jedoch die gleiche Choralmelodie von Nikolaus Decius (‚Allein Gott in der Höh sei Ehr’) wie in den beiden früheren Werken. Sie gibt dem Repertoire der deutschen Pastoralmusik, das für kirchliche Zwecke adaptiert wurde, eine neue Richtung: Auf typische Weise sanft und friedlich in der Stimmung, wie es die zwei früheren Kantaten waren, enthält sie trostreiche Worte und Gesten, die den Tod als Erlösung von der Pein und Mühsal des Lebens willkommen heißen. Die einleitende Choralfantasie ist in ihrer Verdichtung ein Meisterwerk. Die Verwendung von zwei Hörnern, beide in G mit Aufsatzbogen, das eine stratosphärische Höhen erklimmend (und ohne Atempause), das andere mit fesselnden, aus jeweils drei Noten bestehenden Rufen, offenbart ein sehr viel majestätischeres Portrait des guten Hirten, als uns vorher begegnet ist.
Bach hat hier verschiedene, so gut wie unabhängige Elemente zu einem einzigen erstaunlichen polychromatischen Ganzen zusammengefügt. Die ruhige, in der Sopranstimme aufsteigende Choralmelodie hat er zu schimmerndem Glanz poliert (erstes Horn), Beschaulichkeit gewissermaßen mit Majestät vereint. Das Gegenthema (erste Violinen und erste Oboen d’amore) ist energisch und bewegt, es schildert die zur Weide tollenden Lämmer – oder eine vorwärts strebende Menschenmenge oder beides. Abgesehen von diesem fesselnden Kontrast (und es gibt noch weitere Gegensätze, zum Beispiel zwischen der Abfolge imitativer Stimmeinsätze zur Unterstützung der Sopran-/Hornmelodie) formieren sich Präludium, Strophen, Intermezzo usw. zu einem unregelmäßigen Mosaik, das folgendes Taktmuster zeigt:
Hat Bach hier eine geheimnisvolle numerologische Schablone verwendet – und wenn er es tat, was hat es zu bedeuten?
Die zweite Vers ist eine erlesene, dem äußeren Anschein nach pastorale Arie für Alt mit obligater Oboe d’amore, reich ausgestattet mit vertrackten Gegenrhythmen, gegen die sich die Stimme ‚auf rechter Straß’ zu behaupten versucht. Der dritte Vers beginnt mit einem Arioso, der imposante Continuobass schreitet in tiefer Lage der Bass-Stimme voran, die sich tapfer ‚im finstern Tal’ zu wandeln anschickt. Die hohen Streicher erscheinen spät und geben den Worten, die in den Psalmtext eingefügt sind, chromatischen Nachdruck, lediglich acht Takte, die mit einem modulatorischen Abstieg von As über g nach f auf die Leiden und Schrecken der Lebensreise verweisen, in der Heiterkeit von E-dur verweilen, denn ‚dein Stecken und Stab trösten mich’, und schließlich in G- dur zur Ruhe kommen. Die vierte Strophe ist ein Duett für Sopran und Tenor in der Form einer unbändigen Bourrée für Streicher – und für die beiden Sänger erheblich leichter zu tanzen als zu singen!
Alle fünf Strophen dieser herrlichen Kantate sind auf den Sinngehalt des Textes zugeschnitten, die Musik ist voller glänzender, kluger Einfälle, ein Beispiel dafür, wie Bach auf seine Erfahrung und seine Kunstfertigkeit zurückgriff, um seine religiösen Überzeugungen zu artikulieren, seine Zuhörer zu ermahnen, anzuspornen und zu entzücken. Doch ist es ihm gelungen?
‚Wenn wir gerade beginnen, Form und Inhalt der Musik zu begreifen’, wie es unser erster Oboist Marcel Ponseele ausdrückte, ,müssen wir aufhören’ – und uns dem Programm der nächsten Woche zuwenden.
stelle ich für jeden Sonntag im Kirchenjahr den Besuchern von
„Volkers Klassikseiten J.S. Bach“
eine Hör- oder Sehprobe und eine „Bach-Kantaten-Beschreibung“ für den entsprechenden Sonntag-Feiertag im Kirchenjahr zur Verfügung.
Am 15.04.2012
begehen wir den Sonntag ”Quasimodogeneti“
Der Name des Sonntags Quasimodogeniti leitet sich vom Beginn der früheren lateinischen Antiphon ab: Quasi modo geniti infantes, Halleluja, rationabile, sine dolo lac concupiscite. (1. Petr 2, 2; deutsch: Wie die neugeborenen Kindlein seid begierig nach der vernünftigen, lauteren Milch).
Der Sonntag Quasimodogeniti erinnert uns an die neue Geburt, die wir „durch Wasser und Geist“ erfahren, d.h. den Anfang eines neuen Lebens in Christus, nach unserer physischen Geburt. Die Perikopen haben aber, mit Ausnahme der Epistellesungen, nur wenig damit zu tun. Die Evangelien erzählen weiter von dem Geschehen nach Ostern.
Auch der Sonntag Quasimodogeniti steht ganz unter dem Zeichen des Osterfestes. Die Geschichte von Thomas führt uns unseren eigenen Wunsch vor Augen, Jesus zu sehen. Aber: selig sind, die nicht sehen und doch glauben. Die große Gnade ist, dass wir durch Jesus Christus völlig neu geboren sind und die Verantwortung, die Gott uns Menschen übertragen hat, selbst wahrnehmen können, ohne von unserer Schuld erneut gefangengenommen zu werden.
Wochenspruch:
Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten. (1. Petr 1, 3)
.Geistliche Musik am Sonntag um 08:03 bis 08:40 Uhr
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Johann Sebastian Bach:
BWV 42 „Am Abend aber desselbigen Sabbats“
Kantate für den 1. Sonntag nach Ostern
Barbara Schlick, Sopran / Gérard Lesne, Altus Howard Crook, Tenor / Peter Kooy, Bass
La Chapelle Royale / Collegium Vocale Gent Ltg.: Philippe Herreweghe
Kantaten-Beschreibung: BWV 42 „Am Abend aber desselbigen Sabbats“
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Im folgenden Jahr, 1725, fand Bach in der Kantate BWV 42 „Am Abend aber desselbigen Sabbats“ zu einer völlig anderen Lösung. Er gab den Anfang des Textes aus dem Johannesevangelium nicht dem erschöpften Chor, sondern einem Tenor – als Evangelisten. Seiner Lesung geht eine ausgedehnte Sinfonia voraus, die einem concerto a due cori ähnelt – Streicher sind gegen Holzbläser gesetzt (zwei Oboen und Fagott). Es mag zwar verlockend sein, hinter Bachs Entscheidung für eine instrumentale Ouvertüre eine ausdeutende theologische Absicht zu sehen – Eric Chafe ist zum Beispiel der Meinung, sie lege die Interpretation nahe, der auferstandene Christus erscheine inmitten seiner besorgten Jünger –, sie stammt jedoch in Wahrheit aus einer verschollenen Serenata zum Geburtstag des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen (BWV 66a). Sie ist ein weiteres Beispiel für jene Stücke, in denen Bach vorhandenes weltliches Material parodiert, und man stellt sich die Frage, ob er die doppelte Zweckbestimmung von Anfang berücksichtigt hatte oder ob er sie, da er genau erkannte, auf welch vielfältige, doch durchaus geeignete Weise sich vorrätiges Material verwerten ließ, aus der untersten Schublade hervorholte, als ihm der Gedanke kam, dass sie für die geplante Kantate zu gebrauchen sein könnte.
Freie Instrumentalmusik ist jedoch die eine Sache: Ob sie einen subjektiven Stempel trägt, der eine bestimmte Interpretation nahe legt, lässt sich weder beweisen noch widerlegen. Eine andere Sache ist Musik, der ein Text unterlegt ist. Ich konnte keinerlei Anzeichen dafür entdecken, dass sich in der Alt-Arie Nr. 3 ‚Jesus ́inmitten’ einer aufgewühlten Welt’ befindet (wieder Chafe), und hätte es auch nicht in einer Musik erwartet, deren Originaltext (ebenfalls aus der Köthener Serenata) mit den Worten beginnt: ‚Beglücktes Land von süsser Ruh und Stille! / In deiner Brust wallt nur ein Freuden-Meer’. Doch fand ich sie, manchen pastoralen Stücke Rameaus vergleichbar, bei unserer ersten Aufführung unerträglich qualvoll und traurig, sehr viel heiterer und trostreicher bei der zweiten. Vielleicht sind diese beiden subjektiven Eindrücke weniger widersprüchlich, als es zunächst den Anschein haben mag. Könnte es sein, dass Bachs eigene schmerzvollen Erfahrungen und enttäuschenden Erlebnisse dieser Gelassenheit zugrunde liegen, mit der er die Macht des Gebetes und der Vergebung akzeptiert: ‚Wo zwei und drei versammlet sind’ und (im B-Teil) ‚Denn was aus Lieb und Not geschicht, / das bricht des Höchsten Ordnung nicht’?
Bach setzt in die Mitte dieser Kantate einen Choral, um die Verletzlichkeit des ‚Häuflein klein’ in einer feindlich gesinnten Welt zu betonen, verbirgt ihn jedoch fast vollständig in den instrumentalen (und gelegentlich vokalen) Linien. C. H. Terry hat einmal die Vermutung geäußert, das merkwürdig bukolisch klingende Fagottobligato sei dazu bestimmt, eine Choralmelodie zu begleiten, ‚die eigentlich überhaupt nicht erklingt’, was zu der Vermutung führen könnte, dieser Kunstgriff drücke das ‚Verborgensein’ der Kirche in der Welt aus. Ein solcher Eindruck scheint sich im Bass-Rezitativ (Nr. 5) zu bestätigen, wo mitgeteilt wird, Jesus sei seinen Jüngern ‚zum Zeugnis, dass er seiner Kirche sein will’, plötzlich erschienen. Bach leitet in den letzten wenigen Takten zu einem animoso über, wo die gesamte Continuogruppe (Cello, Violone, Fagott, Cembalo und Orgel) die Absicht zu haben scheint, den wütenden Feind in den unergründlichen Schlund zu stoßen –, und dies ebenso über eine weite Strecke der abschließenden Arie in A-dur (Nr. 6).
Der Bass-Solist feiert unterdessen die Macht des Lichts, das die Finsternis überwindet: Jesus als ‚ein Schild der Seinen, wenn sie die Verfolgung trifft’, ist der Garant dafür, dass ihnen ‚die Sonne scheinen’ wird. Whittaker verwies auf die ‚in Terzen leuchtenden’ Violinen, die uns diese Sonne ‚mit der güldnen Überschrift’ schildern, und sie lenkten meinen Blick auf das mit Gold verzierte ‚SDG’ auf der Kanzel. Bach hat diesen Abschnitt für zwei Violinstimmen vorgesehen, in die sich die vier ersten Violinen teilen, zwei pro Part. Nach außen hin schien er so wenig überzeugend, dass wir ihn als ganz normale Triosonate aufzuführen versuchten (zwei Violinen pro Part lassen sich viel schwieriger harmonisch verbinden als eine oder drei). Es klang gut, aber nicht mehr; daher experimentierten wir mit drei Instrumenten pro Part, die wir antiphonal gegeneinander setzten. Schließlich kehrten wir wieder zu der ursprünglichen Aufteilung zwei Stimmen pro Part zurück – und diese beweist natürlich, dass Bach genau wusste, was er wollte. Der abschließende Choral enthält Luthers Version von Da Pacem, Domine, die dieser Johann Walthers Gebet um ‚Fried und gut Regiment’ geschickt aufgepfropft hat.
stelle ich für jeden Sonntag im Kirchenjahr den Besuchern von
„Volkers Klassikseiten J.S. Bach“
eine Hör- oder Sehprobe und eine „Bach-Kantaten-Beschreibung“ für den entsprechenden Sonntag-Feiertag im Kirchenjahr zur Verfügung.
Am 08.04. und 09.04.2012
begehen wir die Feiertage ”Ostern“
Die Osterzeit beginnt mit dem Ostermorgen und endet 50 Tage später mit Pfingsten. Diese Zeitspanne wurde schon von den Juden beobachtet, das Fest Pentekost (griechisch = der „Fünfzigste“) wird auch vom Volk Israel gefeiert. Die Christen übernahmen diese Zeitspanne als besondere Festzeit bereits im 2. Jahrhundert, vielleicht sogar früher (dass das Osterfest selbst schon in der frühesten Christenheit gefeiert wurde, belegt 1. Kor 5, 7-8). In dieser Zeit der 50 Tage wurde zunächst besonders die Überwindung des Todes, den Christus am Kreuz erlitt, zum Gegenstand der Betrachtung gemacht. Später verlor die Betrachtung des Todes immer mehr an Bedeutung, und die Zeit wurde mehr und mehr zum Fest der Erhöhung Christi, also eigentlich seiner Himmelfahrt, umgewandelt.
Diese Zeit ist in zwei Abschnitte gegliedert. Zunächst befaßt sie sich mit dem Wirken Gottes an uns durch Jesus Christus (bis Jubilate), und dann erfolgt die Antwort der Gemeinde auf dieses Wirken (Kantate und Rogate). Nach 40 Tagen (zur Symbolik der Nummer 40 siehe die Fastenzeit) ereignet sich Christi Himmelfahrt, wonach die Gemeinde in baldiger Erwartung seiner Wiederkunft verharrt.
Am Ostersonntag freuen wir uns über die Auferstehung Jesu von den Toten. Er ist der Erstling der Auferstehung, dem wir nachfolgen werden, wenn er kommen wird. Aber die Auferweckung gibt uns nicht nur Hoffnung für die Zukunft – auch heute, in unserer Welt, können wir nicht schweigen von unserer Freude und beten, dass das Evangelium unter uns wirksam werde und diese Welt verändere.
Wochenspruch:
Christus spricht: Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle. (Offb 1, 18)
Der Ostermontagnimmt Bezug auf die Ereignisse unmittelbar nach der Auferstehung. Die Reaktion der Jünger und die ersten Erscheinungen Jesu stehen nun im Mittellpunkt, wobei auch die Konsequenzen der Auferstehung schon deutlich werden.
Am Ostermontag hören wir die Geschichte von den Emmausjüngern und erfahren, dass Jesus auch unerkannt unter uns ist und wirkt. So können wir getrost alle Zweifel in Gottes Hand legen, brauchen sie aber auch nicht zu verschweigen, weil wir wissen, dass Gott uns zur rechten Zeit das Verstehen schenkt.
Wochenspruch:
Christus spricht: Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle. (Offb 1, 18)
Geistliche Musik am Oster-Sonntag um 08:03 bis 08:30 Uhr
Johann Sebastian Bach:
„Christ lag in Todes Banden“ BWV 4
Katharina Fuge (Sopran)
Carlos Mena (Alt)
Hans Jörg Mammel (Tenor)
Stephan MacLeod (Bass)
Ricercar Consort Leitung: Philippe Pierlot
Johann Sebastian Bach:
„Christ lag in Todesbanden“ BWV 695 Gerhard Weinberger (Orgel)
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Geistliche Musik am Oster-Montag um 08:03 bis 08:30 Uhr
Thomas Selle:
„Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“
Weser-Renaissance Bremen
Leitung: Manfred Cordes Friedrich Wilhelm Zachow:
„Ich bin die Auferstehung und das Leben“
Gudrun Sidonie Otto (Sopran)
Christoph Dittmar (Alto)
Mirko Ludwig (Tenor)
Guillaume Olry (Bass)
Chor und Orchester Cantus Thuringia
Leitung: Bernhard Klapprott
Kantaten für Ostersonntag, Ostermontag und Osterdienstag
Georgenkirche, Eisenach am 23. bis 25. April 2000
Kantaten-Beschreibung: BWV 4
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Superintendent Robscheit, Pfarrer an der Georgenkirche, begrüßte uns herzlich. Wir hätten zehn Jahre früher kommen sollen, meinte er; denn damals, zu DDR-Zeiten, habe es so wenig Kontakte nach draußen und in die weite Welt der Bach-Aufführungen gegeben, dass die Menschen in Eisenach Hinweise auf eine weltoffenere Annäherung an den Komponisten nur über das Radio oder aus dem Westen hereingeschmuggelte CDs erhaschen konnten, die Rentner von ihren Stippvisiten mitgebrachten. Aber es sei gut, dass wir beschlossen hatten, auf unserer Pilgerreise hier Station zu machen, denn Eisenach sei der Ort der Begegnung von Bach und Luther: Bach habe seine ersten zehn Lebensjahre hier verbracht und als Chorknabe in dieser Kirche gesungen; auch Luther habe hier gesungen und oben auf der Wartburg, wo er gefangen saß, seine deutsche Übersetzung des Neuen Testaments verfasst.
St. Georgen in Eisenach mit Taufbecken im Vordergrund dort wurde am 23.3.1685 J.S. Bach getauft
Der Pfarrer zeigte auf das Taufbecken, wo Bach getauft worden war. Wie ein steinernes Symbol steht es unübersehbar im Zentrum der Kirche vor den Stufen zum Altarraum, ging jedoch in der Flut der Podeste nahezu unter, als wir uns dort im Kreis aufstellten, Orchester und Chor in der Mitte, um an den drei Ostertagen, Sonntag, Montag und Dienstag, unsere Konzerte zu geben. Am Morgen des Ostersonntags und Namenstags des Heiligen Georg waren wir im hinteren Teil der Kirche auf der Orgelempore postiert, wo wir im lutherischen Hauptgottesdienst den Gemeindegesang leiten sollten. Gemeindemitglieder aus der Stadt und dem Thüringer Umland, dazu Bach-Pilger (einige waren aus England oder anderswoher mit dem Flugzeug gekommen, manche hatten den ganzen Weg von Holland aus mit dem Fahrrad zurückgelegt) füllten die Kirche bis auf den letzten Platz. Wie viele Thüringer Kirchen ist auch die Georgenkirche wie ein
Barocktheater angelegt, die mehrstöckigen Emporen und Fürstenlogen bieten den Gottesdienstbesuchern einen ungehinderten Blick auf den Pfarrer und eine gute Akustik. Von unserer Position auf der Empore aus, mit der laut dröhnenden Orgel hinter uns, konnten wir Bachs Taufbecken sehen und dicht daneben die Kanzel, von der aus Luther 1521 gepredigt hatte. Sehr wahrscheinlich standen beide Männer – als Chorknaben – einst an dieser Stelle, wo wir jetzt standen. Die Choräle, die wir singen sollten, Christ ist erstanden und Christ lag in Todesbanden, waren so alt wie die Kirche selbst, Luther hatte sie in sein wortgewaltiges Deutsch gefasst, und Bach hatte mit seiner überwältigenden vierstimmigen Harmonisierung für eine weitere Überraschung gesorgt: Ihre Melodien waren so verändert worden, dass wir ahnen können, welche Bedeutung der Text für ihn selbst hatte, und das machte sie für uns, als Hörer oder Gläubige, auf eine besondere Weise reizvoll.
Die Stimmung lässt hier unmissverständlich deutlich werden, dass der Höhepunkt des lutherischen Kirchenjahrs das Osterfest ist – mit seinen übereinander gelagerten Schichten heidnischen und jüdischen Ursprungs: Frühlingsopfer, Passah und Fest des ungesäuerten Brotes, jenes alte kanaanitische Bauernfest, das die Hebräer übernahmen, als sie sich im gelobten Land niederließen, und das die Lutheraner später in dieser kaum veränderten Waldlandschaft wieder heimisch machten. In der ehrfürchtigen Andacht der Abendmahlsfeier konnte man einen Eindruck gewinnen, welche Bedeutung dieser Teil des Gottesdienstes für Luther hatte. Er war für ihn ein Ritual, das die Gläubigen aufruft, sich am Spiel der Erlösung aktiv zu beteiligen, die Zweifel abzulegen und dem ephemerischen Christus in einer greifbaren Form zu begegnen. Hier also gab es den Beweis für eine deutlich zu erkennende Synergie zwischen Luther und Bach. Unsere Vorstellung von beiden ist durch Musikwissenschaftler und Historiker geprägt, die über sie schreiben, als ließen sie sich auf ihre allein vom Verstand bestimmten Leistungen reduzieren – in Luthers Fall seine knochentrockenen theologischen Schriften ohne Witz und Metaphorik, bei Bach seine unfügsamen Klavierwerke. Damit wenden wir einer wesentlichen Charaktereigenschaft beider Männer den Rücken zu – ihrem Temperament: das Feuer im Herzen, das Luther den Mut gab, mit Rom zu brechen, und Bach die Zähigkeit, vier Jahre seines Lebens (1723–1727) der Komposition seiner jeweils einen Jahrgang umfassender Kantatenzyklen zu widmen, die auf der Pilgerreise des Lebens die Phasen von Zweifel und Furcht, Glauben und Unglauben mit beispielloser Erfindungsgabe schildern.
Es war nicht schwer, sich den jungen Bach an diesem Ort vorzustellen, der zu den Wiegen des Luthertums gehört und sich äußerlich so wenig verändert hat. Als Schüler der Eisenacher Lateinschule, in die Bach, ebenso wie Luther, mit sieben Jahren kam, sang er in der Georgenkirche in den regelmäßigen Gottesdiensten unter der Leitung des Kantors Andreas Christian Dedekind, der auch sein Klassenlehrer war. Im Alter von sieben bis zehn Jahren erhielt er Unterricht in den Anfangsgründen der Musik bei seinem Vater Johann Ambrosius, der Hoftrompeter war und als Stadtpfeifer die verschiedensten Instrumente beherrschte, bei Kantor Dedekind sowie Johann Christoph, dem ältesten Vetter seines Vaters, der Organist an der Georgenkirche war und auf Bachs musikalische Erziehung den größten Einfluss hatte.
Die größte Bedeutung in Bachs früher Begegnung mit Musik und Theologie hatten die Choräle, die in seinen Kirchenkantaten eine wesentliche Rolle spielen würden – jene, von Luther neu gestalteten Lieder, die wir am Ostermorgen sangen. In seiner Vorrede zum Babstschen Gesangbuch (1545) erklärte Luther: ‚Gott hat unser Herz und Gemüt froh gestimmt, als er seinen geliebten Sohn schickte, uns von Sünde, Tod und Teufel zu erlösen. Wer unter uns ehrlichen Glaubens ist, wird vergnügt und frohgemut singen, auf dass es jeder
höre und Acht habe.’ Das war der Kern von Luthers Glaubensbotschaft und eine frühe Lektion für Bach, für den das tägliche Singen offenbar seit der Zeit, als er vier Tage die Woche zur Chorprobe anzutreten hatte, eine völlig normale Betätigung war.
Doch diese frohgemute Stimmung hat ihren Preis: Um aus der emotionalen Spannung zwischen Furcht und Hoffnung, Verzweiflung und Vertrauen befreit zu werden, müssen wir in unserem Kampf gegen den Tod unsere Taufe erfüllen, wenn wir ihn besiegen wollen. Nirgendwo kommt das deutlicher zum Ausdruck als in Luthers imposanten Choral Christ lag in Todesbanden, der in seinem Kern ein Kampf zwischen den Mächten des Lebens und des Todes ist, aus dem Christus als Sieger hervorgeht. Hat Bach zum ersten Mal in dieser Kirche und um diese Jahreszeit diesen Choral gehört? Dann hätte er nicht deutlicher formuliert finden können, wie tief im Urchristentum Luthers Glaube verwurzelt ist – der alttestamentarische Verweis auf Christus als Osterlamm, der die Vorstellung bekräftigt, dass Christus der Inbegriff des Lebens ist und das Leben durch Licht (die Sonne) und Nahrung (Brot oder das Wort) bewahrt wird.
Bachs Vertonung von Luthers Choral (BWV 4) gehört zu seinen frühesten Kantaten, für sein Vorspiel 1707 in Mühlhausen komponiert und ein kühnes, innovatives und dramatisches Werk, das alle sieben Strophen Luthers verarbeitet und in der Tonart e-Moll beginnen und enden lässt. Ich vermute, es ist mir deshalb so vertraut, weil ich es öfter als jede andere Kantate aufgeführt habe – und es wird nie langweilig. Aber das Gefühl, dass Bach auf musikalische Wurzeln aus dem Mittelalter zurückgreift (die Melodie ist dem gregorianischen Choral Victimae paschali laudes aus dem 11. Jahrhundert entlehnt) und sich mit Geist und Wortlaut der glühenden, dramatischen Hymne Luthers völlig identifiziert, war niemals so stark oder so bewegend wie hier bei unserer Aufführung in Eisenach.
Luthers Choral, 1524 zum ersten Mal veröffentlicht, schildert sehr anschaulich die Ereignisse von Christi Passion und Auferstehung, die körperlichen und geistlichen Prüfungen, denen er sich zu unterziehen hatte, um die Menschen von der Last ihrer Sünden zu erlösen. Der Bericht beginnt mit einem Rückblick auf Christus ‚in Todesbanden’ und endet mit seinem jubelnden Sieg und dem Fest des Osterlamms, und so wie Luther seine packende Geschichte vorträgt, voller farbenreicher Details, sind die Parallelen zur Volks- oder Stammessaga unverkennbar. In diesem, seinem ersten bekannten Versuch, einen erzählenden Text musikalisch zu gestalten, erweist sich Bach der Aufgabe gewachsen, den Worten eine Musik zu unterlegen, die jede Nuance, jede Anspielung auf die Heilige Schrift, jedes Symbol und jede Stimmung erfasst. Er begnügt sich nicht damit, den Text widerzuspiegeln, wir spüren auch, wie er sich bemüht, ihm eine neue Dimension zu geben, indem er Luthers Ideal folgt, den Text durch die Musik zum Leben zu erwecken, und dafür nutzt er das gesamte ihm verfügbare Wissen seiner Zeit: die Musik, die er als Knabe auswendig gelernt hat, das familieneigene Repertoire an Motetten und Stücken, Musik, mit der er als Chorknabe in Lüneburg in Berührung kam, und schließlich Werke, die er unter der Ägide seiner verschiedenen Mentoren, seines älteren Bruders Johann Christian, Boehm, Reincken und Buxtehude studiert oder kopiert hatte.
Gleich zu Beginn entwurzelt Bach die allerersten Noten der Choralmelodie aus ihrem dorischen Modus, indem er das Quartintervall erhöht und einen fallenden Halbtonschritt schafft, ein musikalisches Motiv, das leicht als Ausdruck von Kummer und Sorge zu verstehen ist. Dieses Intervall wird zur melodischen Kernzelle seiner gesamten Komposition. Dass ein junger Komponist wagte, die melodischen Konturen dieser uralten, ehrwürdigen Choralmelodie zu verändern, die noch dazu durch Luthers berühmte Bearbeitung die Weihe erhalten hatte, war ein radikaler, fast provokativer Schritt. Bach geht taktisch klug vor, indem er diese Choralmelodie in das Klanggewebe seiner Komposition einbettet und ihren ersten beiden (veränderten) Noten, dem fallenden Halbton, der auf quälende Weise wiederkehrt, besonderen Nachdruck gibt. Bereits im dritten Takt der düsteren, das Werk einleitenden Sinfonia trennt er diese beiden Noten voneinander – ‚Christ lag… Christ lag…’ ohne Worte –, und erst bei der dritten Wiederholung nehmen wir sie als die erste vollständige Zeile des Chorals wahr, wo sie der erneuten Inszenierung von Christi Tod und Grablegung Gewicht gibt.
Mit dem Einsatz des Chores in der ersten Strophe wird die Choralmelodie aus dem dichten kontrapunktischen Kernholz dieser imposanten Choralfantasie herausgeschnitzt. Die Violinen tauschen eine atemlose Suspiratiofigur aus – Seufzermotive, die hier an passender Stelle eingefügt sind und Christi Leiden im Angesicht des Todes schildern. Ketten aus Daktylen und Anapästen treten bald an ihre Stelle und schaffen eine rhythmische Vitalität, die erkennen lässt, auf welche Weise Christi Auferstehung ‚uns bracht das Leben’. Die Fantasie zerbirst in einen alla breve-Schluss, einen flinken Kanon, der auf einer denkbar schlichten Melodie basiert: fünf absteigenden, synkopierten Noten, die unablässig wiederholt werden, in einer Weise, so Gillies Whittaker, dass ‚ihre atemlos wirbelnde Jubelstimmung die Grenzen kirchlicher Ziemlichkeit bezwingt’.
Die Stimmung ungezügelter Freude ist von kurzer Dauer. Unvermittelt erinnert uns Luther an die Zeit, als der Tod ‚über die Menschenkinder Gewalt nahm’ und sie ‚in seinem Reich gefangen hielt’, ein grausiges Bild, bis ins Detail so anschaulich wie jene spätmittelalterlichen Totentanzfriese, die auf die Kirchenwände vieler von der Pest heimgesuchter deutscher Städte gemalt sind. Zwei Zeitrahmen überdecken sich hier, in dem einen der Mensch vor seiner Wiedergeburt, in dem anderen Bewohner Thüringens aus Luthers und Bachs Zeit, von ihren regelmäßigen Begegnungen mit dem Pesttod gezeichnet. Bach verwendet seinen fallenden Halbton in Fragmenten aus zwei Tönen – zerteilt und trostlos, ausgetauscht zwischen Sopran und Alt in einer gramvollen wiegenden Bewegung über einem Continuobass (der das gleiche zweinotige Intervall zwanghaft wiederholt, doch mit Oktavsprüngen und diminuiert). Bach bringt mit einer faszinierenden Musik zum Ausdruck, wie der Mensch, gelähmt und hilflos, Gottes Urteil wider die Sünde erwartet – laut Luther ‚die schwerste und gewaltigste’ Todesstrafe.
Dieser trostlosen Bühne nähert sich nun verstohlen der zum Gerippe personifizierte Tod und packt die Sterblichen mit seinen knochigen Händen. Zweimal lässt Bach den Rahmen erstarren: Zuerst bleibt die Musik auf den Worten ‚den Tod / der Tod’ haften, wird viermal hin und her geschleudert, dann hält sie bei dem Wort ‚gefangen’ inne, wo Sopran und Alt in einer E/Fis-Dissonanz verkettet werden. Das überraschende Wort ‚Halleluja’ folgt, wie überhaupt am Ende jeder Strophe. Doch die Stimmung bleibt hier unverändert traurig, abgesehen von einem kurz aufflackernden Versprechen gegen Ende, bevor die Musik in resignierter Unterwerfung zusammensinkt.
Ein heftiger Stimmungswechsel, und die dritte Strophe beginnt unisono in den Violinen, die eine Variante des Chorals in der Manier eines italienischen Concertos erklingen lassen. Die Tenöre verkünden die Ankunft Christi: Die Sünde wird besiegt, dem Tod der Stachel genommen, Bach setzt die Violinen wie einen Dreschflegel ein, um zu schildern, wie Christus den Feind niederstreckt. Die Continuolinie wird losgeschickt, in kreiselnder Abwärtsbewegung bis hinunter zum tiefen E auf angemessene und ‚Miltonsche Weise den rebellischen Engel in die Tiefe zu stürzen’ (noch einmal Whittaker). Die Macht des Todes zerbirst. Die Musik kommt bei ‚nichts’ völlig zum Stillstand: ‚da bleibet nichts…’ – die Tenorstimmen nehmen sie langsam wieder auf – ‚denn Tods Gestalt’, nun lediglich ein fahler Schatten. Hier lässt Bach mit Bedacht die Violinen die viernotige Kontur des Kreuzes herausarbeiten, und wenn sie ihr Konzert fortsetzen, so ist dieses nun eine prächtige Demonstration ihrer Tüchtigkeit, eine Siegesparade, von den Tenorstimmen mit dem frohlockenden Glucksen ihrer ‚Hallelujas’ begleitet.
Die mittlere Strophe setzt noch einmal den entscheidenden Kampf zwischen Leben und Tod in Szene: ‚Es war ein wunderlicher Krieg, / da Tod und Leben rungen’. Bach konzentriert sich auf den körperlichen Aspekt der Auseinandersetzung: Nur das Continuo bietet instrumentale Unterstützung, während Zuschauer gruppenweise ihre Reaktion auf die folgenreiche Kraftprobe beschreiben, die ihr Schicksal entscheiden wird. Doch sie kennen bereits das Ergebnis – denn ‚die Schrift hat verkündet das, / wie ein Tod den andern fraß’. In dieser an Hieronymus Bosch erinnernden Szene lässt Bach drei seiner vier Vokalstimmen in wilder Jagd einander verfolgen, eine fugierte Stretta, in der die Einsätze nicht länger als einen Taktschlag voneinander entfernt sind, während die vierte Stimme die vertraute Melodie in bedachtsamen Klängen ertönen lässt. Nacheinander verlieren sich die Stimmen, aufgefressen, zum Schweigen gebracht: ‚Ein Spott aus dem Tod ist worden.’ Der fallende Halbton kehrt wieder, noch immer das Symbol des Todes, doch er wird voller Hohn von der Menge ausgespuckt. Alle vier Stimmen runden die Szene mit ihrem Halleluja-Refrain, die Bässe steigen fast zwei Oktaven in die Tiefe, bevor sie endlich zur Ruhe kommen, während die Exegeten nacheinander die Bühne verlassen.
Die Bässe kehren als Hohepriester des feierlichen Osterritus zurück und intonieren die fünfte Strophe über einer absteigenden chromatischen Basslinie, die an Purcell (‚Dido’s Lament’) erinnert – für Bach ein häufig wiederkehrendes Symbol für die Kreuzigung. Zwischen dem Osterlamm, das die Propheten verkündet haben, und Christi Opfertod ist eine mystische Beziehung geschaffen worden. Symbole sind reichlich vorhanden, besonders bedeutsam das Kreuz, das Bach isoliert, Gestalt annehmen lässt, indem er die harmonische Bewegung einen Takt lang zum Stillstand bringt, jede der Instrumentalstimmen auf einer erhöhten Note, einem Kreuz, pausieren lässt und auf diese Weise alle vier Punkte symbolisch verankert. Damit wir unsere Aufmerksamkeit dem Geheimnis zuwenden, wie ‚das Blut zeichnet unsre Tür’ [um uns zu erlösen], unternimmt Bach bei dieser Zeile drei Anläufe (Continuo, Stimme, Violine), bevor schließlich die Bässe und nach ihnen die Violinen offenbar immer und immer wieder das Kreuzzeichen malen, eben das Symbol, an dem der Glaube haftet bis zum Zeitpunkt des Todes. In diesem Augenblick tiefer Angst zwingt Bach die Bässe, eine verminderte Duodezime hinab in die Tiefe zu stürzen, bis zum tiefen Es. Völlig unvermittelt und beispiellos ertönt ein Kampfesruf auf einem hohen D, das sie fast zehn Takte lang halten, um kundzutun, dass der ‚Würger uns nicht mehr schaden kann’. Es ist wunderbar, ein Fehdehandschuh wird hinunter zu den Sängern geworfen (ja, Plural, denn Bach hat solches nie für Solostimme geschrieben), mit der Weisung, dieses D nach Leibeskräften zu unterstützen, bis sich der Luftvorrat in den Lungen erschöpft. Nun endlich nimmt der Streicherchor in heiterer Stimmung den Choral wieder auf und setzt das feierliche Ritual fort. Doch statt den Streichern zu folgen, ergehen sich die Bässe in frohlockenden ‚Halleluja’-Rufen, die in einem gewaltigen Siegesschrei gipfeln, der zwei Oktaven umfasst.
Damit endet im Grunde das Drama, doch nicht die ‚Herzensfreud’, die diese Musik für uns bereithält. Denn in der vorletzten Strophe, einem Duett für Sopran und Tenor mit Continuobegleitung, liefert uns Bach einen munteren Tanz ungetrübten Glücks. Das Wort ‚Wonne’ erscheint in Rouladen à la Purcell, das abschließende ‚Halleluja’ in Triolen und Duolen, die zwischen den Stimmen wechseln. Die ursprüngliche vierstimmige Harmonisierung für die Schlussstrophe ist nicht erhalten, doch die achtzehn Jahre später in Leipzig entstandene Fassung, durch die Bach sie ersetzte, macht den Verlust durchaus wett: von mitreißendem Schwung und bezeichnenderweise zum siebten Mal mit der Erläuterung, wie ‚Halleluja’ zu singen sei – stets mit einer unerwartet neuen, sehr feinen Nuance im Ausdruck.
stelle ich für jeden Sonntag im Kirchenjahr den Besuchern von
„Volkers Klassikseiten J.S. Bach“
eine Hör- oder Sehprobe und eine „Bach-Kantaten-Beschreibung“ für den entsprechenden Sonntag im Kirchenjahr zur Verfügung.
Am 06.11.2011 begehen wir den 21. Sonntag nach „Trinitatis“
Der Der 21. Sonntag nach Trinitatis wird von der Epistel her bestimmt. Es ist dort die Rede von der „Waffenrüstung Gottes“ – Paulus vergleicht die Instrumente des Krieges mit denen des Glaubens. Dem ist das Evangelium von der Feindesliebe entgegengestellt – es handelt sich bei diesem Text allerdings nur um die Zusammenfassung der längeren Liste aus Epheser 6. Der alttestamentliche Text scheint nicht viel mit „geistlicher Waffenrüstung“ zu tun zu haben, es sei denn, man betrachtet den Vers 7 als Hinweis auf die Waffe, mit der das jüdische Volk sich im Exil am Leben erhalten hat. Von einer Waffenrüstung zu reden – gleich ob geistlich oder nicht – trifft heute normalerweise auf Befremden. Diese Bilder gehören in eine extremistische Welt, nicht aber in die friedvolle Welt der Kirche. Dabei übersehen wir oft, dass es auch in der Kirche menschlich zugeht und auch dort Waffen benutzt werden – diese sind dann allerdings oft nicht die, von denen Paulus redet.
Die Rede Jesu von der Feindesliebe zeigt uns am 21. Sonntag nach Trinitatis, welche Waffen wir gegen unsere Feinde einsetzen können und sollen. Die Waffe der Liebe hat die Verheißung, dass Gott durch sie wirkt; darum können wir uns getrost auf sie verlassen, auch dann, wenn uns diese Waffe als wirkungslos erscheint. oder
Auch Christen benutzen Waffen, aber ihre Waffen verletzen nicht – zumindest nicht in der Regel – denn es sind geistliche Waffen, die uns sicher und fest machen und zugleich dazu dienen, Menschen, denen wir begegnen, die Liebe Gottes spürbar zu vermitteln. So rüsten wir uns in diesem Gottesdienst, um für die Herausforderungen des Alltags gewappnet zu sein.
Aufführungsort: Greenwich, Old Royal Naval College Chapel,
am 11. und 12.11.2000
Nach unserer Rückkehr aus Italien und weil der Abstecher nach Osten in die Baltischen Staaten, den wir mit so großer Ungeduld erwartet hatten, nun doch nicht zustande kam, fanden wir uns in London wieder, und wieder einmal in Greenwich, in der Old Royal Naval College Chapel, die ein perfektes architektonisches und akustisches Ambiente bot. Jemand in unserer Gruppe hatte vor kurzem eine deutsche Rundfunksendung gehört, in der ein prominenter Leipziger Bach- Forscher und Theologe behauptete, unsere Pilgerreise mit Bach- Kantaten sei ‚suspekt’, weil Bach seine Kantaten nie in einem Stück hintereinander und erst recht nicht ‚in einem Konzert’ aufgeführt habe. Wenn man so verfahre, so sagte er, sei das nicht nur unauthentisch, sondern auch eine Gewähr dafür, dass sich vieles wiederhole, denn es ließe sich doch nicht vermeiden, dass Bach die für einen bestimmten Tag vorgegebenen Texte aus den Evangelien und Episteln auf gleiche Art und Weise verarbeite.
Wer sich vom Gegenteil überzeugen möchte, braucht sich nur die Musik anzuhören, die Bach für diesen Sonntag geschrieben hat. Er schuf nicht weniger als vier überragende Werke, denen der Bericht des Evangeliums zugrunde liegt, wie Jesus den Sohn des königlichen Beamten heilt (Johannes 4, 46–54).
Sie unterscheiden sich alle erstaunlich und weisen in ihrer Stimmung und Instrumentierung fein differenzierte Nuancen auf. In der frühesten dieser Vertonungen, BWV 109 „Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben!“ schafft Bach eine Reihe wunderbarer Antithesen, die den inneren Konflikt zwischen Zweifel und Glaube ausdrücken und zeigen sollen, dass der Glaube erst nach einer Zeit des Zweifels gewährt wird. In dem faszinierenden Gewebe des Eingangschors in d-moll, einer Vertonung des Textes aus dem Evangelium (‚Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben’), unterteilt er die Stimmen zunächst nach Art eines Concerto grosso in Concertisten und Ripienisten, wie er sie in seiner Terminologie nennt (die Quellen nehmen keine verbindliche Aufteilung vor, doch diese ergab sich während der Proben und durch Ausprobieren).
Einer Triosonate im Miniaturformat, für eine einzelne Violine und entweder eine oder zwei Oboen mit Continuo, oder zwischen Solostimme, Violine und Oboe, werden weitere Rufe (mit der Anweisung forte) der gesamten Concerto-grosso-Gruppe an die Seite gestellt. Die ‚Solo’-Stimmen melden sich mit der ersten Aussage zu Wort: ‚Ich glaube, lieber Herr’ (beginnend mit einer aufsteigenden Quarte, über die sich eine aufsteigende Quinte der zweiten Stimme erhebt), woraufhin die ‚Tutti’- Stimmen den zweiten Teil beisteuern: isolierte Rufe ‚hilf’ und dann die sich windende, in die Tiefe zerrende Phrase ‚hilf meinem Unglauben’. Unendlich faszinierend ist hier, wie diese beiden Aussagen vorgetragen, nebeneinander gesetzt und in einem sich immer weiter verdichtenden Austausch zwischen dem Orchester und dem fugierten Teppich, den alle vier Stimmen gemeinsam weben, verarbeitet werden. Bachs Vertonung hebt die Spannung zwischen Glaube und Zweifel auf eine so persönliche Weise hervor, dass man sich fragt, ob sie nicht seinen eigenen Glaubenskampf widerspiegelt.
Zwei sehr eindringliche Sätze schließen sich an: ein Rezitativ und eine Arie für Tenor, in der dieser innere Kampf weiter dramatisiert wird. Im Rezitativ (Nr. 2) verstärkt Bach die Dichotomie zwischen Glaube und Zweifel, indem er ihr zwei, vom selben Sänger gesungene ‚Stimmen’ zuordnet, die eine mit forte bezeichnet, die andere mit piano, und diese Phrase um Phrase – und in Bachs Rezitativen sicherlich auf einzigartige Weise – miteinander wechseln lässt. (Wie hätte Schumann das geliebt – er, der Schöpfer von Florestan und Eusebius, der es hasste, sich mit einer einzigen einheitlichen Stimme auszudrücken!)
Der grundlegende Kampf findet zwischen B-dur und e-moll statt, Tonarten, die durch einen Tritonus getrennt sind. Bach heischt um Mitleid, indem er die Phrasen in diese tonal entgegengesetzten Richtungen lenkt: Die (Furcht ausdrückenden) piano-Phrasen ziehen zunächst nach unten, während die lauten Glaubensproteste nach oben und zu Dur streben. In den abschließenden Phrasen verliert die Figur, die auf Eusebius verweist, offenbar die Geduld und lässt einen langen ohrenbetäubenden Schrei hören: ‚Ach Herr, wie lange?’, den sie in ihrer Verzweiflung zu einem hohen A (mit der Vorgabe forte und im Tempo adagio) treibt, während das Continuo eine Duodezime nach unten taucht, um sich auf einem tiefen E niederzulassen – eine düstere Vorschau auf die sich anschließende Arie. Bislang hat es keine Lösung gegeben. Gott hat nicht geantwortet.
Bach geht nun daran (Nr. 3), das angstvolle Zittern der Seele zu schildern: durch zerrissenen melodische Formen, instabile Harmonien, die zu quälenden Akkorden in der zweiten Umkehrung gelenkt werden, sowie persistierende Figuren in puntiertem Rhythmus. Er plündert die tragischen Ausdrucksreserven der französischen Ouvertüre à la Lully mit verheerender Wirkung, so dass sich anbietet, dieses Stück als frühe Skizze zu Petrus’ Reue-Arie in der Johannes-Passion zu interpretieren. Wie in ‚Ach, mein Sinn’ ist die Stimmung turbulent, verzweifelt und qualvoll. Alle Energie versackt im ‚B’-Teil, einer meisterhaften Untermalung der Worte: ‚Des Glaubens Docht glimmt kaum hervor, es bricht dies fast zustoßne Rohr, die Furcht macht stetig neuen Schmerz’. Die Instrumentierung wird dünner, die Harmonien steuern in entgegengesetzte Richtungen, erst nach d-moll, dann fis-moll, weg vom e-moll der Tonika und, kurz vor dem vollständigen Dacapo, mit einer abrupten Seitwärtswendung von der Dominante (h-moll) hin zu a-moll.
An diesem Dreh- und Angelpunkt in der Kantate ‚versetzt Bach absichtlich, da bin ich sicher’, wie Eric Chafe darlegt, die entsprechenden symbolischen Bedeutungen der Erhöhungs- und Erniedrigungszeichen aus dem Rezitativ (# aufsteigend, positiv; b negativ) in die geschlossenen Sätze (b positiv; # negativ). So kehrt das folgende Rezitativ für Alt (Nr. 4) mit Worten des Zuspruchs, ‚weil Jesus itzt noch Wunder tut’, zu d-moll zurück und liefert das Präludium zu einer sonnigen Arie für Alt und zwei Oboen in F-dur.
Als französischer Passepied angelegt, bringt sie, trotz ihrer Betonung des inneren Konflikts zwischen Fleisch und Geist, die ersten willkommenen Zeichen der Ermutigung. Bach schließt jetzt anstelle der üblichen vierstimmigen Choralharmonisierung mit einer überschwänglichen Fantasie, die ein Gefühl der Erleichterung und des Wohlbefindens vermittelt. Sie beginnt in d-moll und steuert auf a-moll zu – eine neutrale Tonart, die ‚alle vorangegangenen Tonarten zu relativieren scheint, ähnlich wie der Glaube letztendlich den Zweifel überwindet’ (Chafe). Ob man nun eine solche allegorische Interpretation akzeptieren mag oder nicht, eins ist sicher: Bach ist sich bewusst, dass viele seiner Zuhörer hin und wieder in ihrem Glauben schwanken, und er hat dafür Verständnis. Luther betonte, der Glaube werde ‚zuweilen öffentlich, zuweilen heimlich’ gewährt. Am Ende der Kantate hat man den Eindruck, dass man gehörig in die Mangel genommen wurde.
CD – zwei –———————————————————————————————————————————————————————————————————–……………………………………………………………………………………………………………………………………———————————————————————————————————————————————————-……BWV 38 – Aus tiefer Not schrei ich zu dir
.. …BWV 98 – Was Gott tut, das ist wohlgetan
……BWV 109 – Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben
……BWV 188 – Ich habe meine Zuversicht
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Ich wünsche allen Besuchern eine schönen Trinitatis-Sonntag.
Nicht BACH – Meer sollt er heißen! Fernsehsendung auf BR am 30. Juli 2010 um 00:10 Uhr bis 01:10 Uhr
Wer diesen wunderbaren Film über J.S. Bach verpasst hat sollte am 30.7.2010 um 00:10 Uhr das Bayerische Fernsehen einschalten.
Bach, dieser Ozean, ist unendlich und unausschöpfbar in seinem Reichtum an Einfällen und Harmonien! Mehr als 250 Jahre nach Bachs Tod stimmt der Vergleich mit dem Ozean noch immer. Wie die Musikwelt das Bach-Jahr 2000 beging, davon zeigt der Film von Friedrich Müller stattliche Portionen: mit den Großmeistern Rilling, Koopman, Herreweghe, Krapp, Schneidt, Perahia und Maisky, den Thomanern und Jacques Loussir.
FilmTrailer Ausschnitt:
Bach hält alles aus – die Swingle Singers, Chöre mit hundert Gurgeln oder mit zehn, Cembalo, Steinway und Akkordeon, Schlagzeug und Synhtesizer. Der Ozean Johann Sebastian Bach – unausschöpfbar noch heute. Der Film verschweigt nicht, dass vom Leben des Riesen fast nichts sicher überliefert ist außer ein paar ärgerlichen Episoden: eine Schlägerei, eine deprimierend kleinkarierte Affäre, ein einziges authentisches Bild. Verschollen aber sind hundert Kantaten und zwei Passionen.